Eine unerwartete Begegnung bei Golinhac [Via Podiensis 7]

Roadmovies sind Filme, in denen die Protagonisten eine wahre Odyssee erleben, bevor sie an ihr Ziel gelangen. Oft verändert sich im Laufe ihrer Reise ihr ursprüngliches Ziel sogar. Sie stellen fest, dass sie in Wahrheit etwas anderes benötigen, als ursprünglich vermutet. Allein diese Erkenntnis ist eine Reise wert. Roadmovies basieren strukturell auf ihrem literarischen Vorbild, der Heldenfahrt oder „Quest“. Dabei erleben die Protagonisten allerlei unmögliche Situationen und Gefahren, bevor sie ihr persönliches Ziel erreichen. Zwei bekannte Beispiele sind die „Odyssee“ von Homer und „Parzival“ von Wolfram von Eschenbach mit der Gralssuche.

Kürzlich verglich ein Bekannter meine Erlebnisse auf dem Jakobsweg mit einem Roadmovie. Einige Ereignisse erinnerten mich tatsächlich an einen Film oder Roadtrip, in erster Linie die besonderen Begegnungen mit anderen Pilgern auf dem Weg. Viele dieser Situationen sind bereichernd, einige teilweise skurril, aber die meisten sind liebens- und erinnerungswürdig. Eine außergewöhnliche Begegnung erlebte ich am Abend meiner Etappe nach Massip, unweit von Golinhac.

Wegweiser

Gesamtüberblick: Themenseite Jakobsweg

7. Etappe: Espalion – Estaing – Massip (bei Golinhac)

  • Datum: 11.09.2017
  • Entfernung: ca. 24 Kilometer
  • Besondere Ereignisse: Kirche Saint-Pierre-de-Besseuéjouls, Verrières, Estaing, eine unerwartete Begegnung in Massip
Die „Alte Brücke“ von Espalion (Fotorechte: Dario schrittWeise)

Die vorletzte Tagesetappe meiner Pilgerreise im September 2017 führte mich an einem Regentag von Espalion über Estaing nach Massip, einem kleinen Ort bei Golhinac. Leider regnete es an dem Tag und insbesondere der Aufstieg nach der Kirche Saint-Pierre-de-Besseuéjouls war anstrengend und ungemütlich.

Am Lotufer (Fotorechte: Dario schrittWeise)

Ein nasser Wetterstein

Die Etappe beginnt an der Alten Brücke in Espalion. Die ersten Kilometer verlaufen durch ein Wohngebiet und auch leider ca. 500 Meter entlang einer Landstraße. Eine witzige Entdeckung war ein „Wetterstein“ in einem Garten. Derartige Wettersteine mit einer Erklärtafel habe ich oft in Deutschland gesehen, jedoch kannte ich den letzten Punkt auf der Liste noch nicht. Außerdem eignet sich die Liste gut, um französische Vokabeln zu lernen.

Ein nasser Wetterstein (Fotorechte: Dario schrittWeise)

Übersetzung des Wettersteins

Die Tafel habe ich sinngemäß übersetzt.

Zustand des Steins – Erklärung

  • der Stein ist nass – es regnet
  • der Stein ist trocken – es regnet nicht
  • der Stein wirft einen Schatten – die Sonne scheint
  • der Stein ist weiß – es schneit
  • man sieht den Stein nicht – Nebel
  • der Stein bewegt sich – der Tag ist windig
  • der Stein hüpft – Erdbeben
  • der Stein ist auf den Boden gefallen – starker Wirbelwind
  • sie sehen zwei Steine – lassen Sie das Bier weg!
Die „Bedienungsanleitung“ (Fotorechte: Dario schrittWeise)

An dem Morgen war der Stein nass und bewegte sich. Leichter Nieselregen begleitete mich auf der Landstraße nach Besseuéjouls, die leider nicht sehr erbaulich war. Zudem wurden noch Bauarbeiten entlang der Straße durchgeführt. Alles Zutaten für einen wenig entspannten Wanderabschnitt, doch auch derartige Ereignisse gehören dazu.

Düstere Stimmung am Morgen (Fotorechte: Dario schrittWeise)

Saint-Pierre-de-Besseuéjouls

Meine Stimmung besserte sich, als ich die Kirche Saint-Pierre-de-Besseuéjouls gesehen habe. Espalion hat somit zwei schöne Kirchen in der Nähe, die Perserkirche und Saint-Pierre. Hier traf ich auch zwei sehr sportliche französische Rentnerinnen wieder, die regelmäßig an Marathonläufen teilnehmen. Sie liefen mit leichtem Gepäck und kamen schneller voran als die meisten Pilger. Ich lernte sie am Vorabend in der Pilgerunterkunft in Espalion kennen.

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Der Ort Bessuéjouls wurde um das Jahr 1100 dem Kloster Saint-Victor in Marseille geschenkt. Die Mönche ließen aus dem roten Buntsandstein der Region eine romanische Kirche bauen, von der nur der westliche Teil mit Eingangshalle, Glockenturm und der romanischen Michaeliskapelle erhalten geblieben ist.[1]

Die Kirche ist insbesondere wegen der kleinen Michaeliskapelle auf der ersten Etage sehenswert. Ich machte den Fehler, meinen Rucksack nicht abzusetzen, als ich eine der beiden Wendeltreppen hinaufstieg. Die beiden Treppenaufgänge sind sehr schmal.

Michaelisaltar aus dem 9. Jahrhundert (Fotorechte: Dario schrittWeise)

Die Kunstschätze der Oberkapelle belohnen die Besucher für ihren umständlichen Aufstieg. Die Kapitelle sind mit Engeln, Fabelwesen und einem Flechtband verziert. Das prachtvolle karolingische Michaelisaltar stammt aus dem 9. Jahrhundert. Links ist der Erzengel Michael als Drachentöter oder -besieger und rechts ein unbekannter Engel mit einem Spruchband dargestellt. [2]

Schlammiger Aufstieg (Fotorechte: schrittWeise)

Kurz nach der Kirche beginnt ein beschwerlicher Aufstieg, der normalerweise kein Hindernis wäre, an Regentagen verwandelt sich der Pfad in einen Schlammweg. Später erfuhr ich von anderen Pilgern, dass sie auf der Landstraße geblieben sind, wie ihnen die Dorfbewohner geraten haben. Dies wäre somit auch eine Alternative für Regentage gewesen.

Idyllische Landschaften und Regenpausen (Fotorechte: Dario schrittWeise)

An jenem Tag regnete es zum Glück nicht pausenlos, zwischendurch hatte ich auch gute Wetterbedingungen. Die Tagesetappe teilte ich gedanklich in zwei Teile, den Weg nach Estaing und von Estaing nach Massip, dem kleinen Ort in dem ich meine Übernachtung gebucht habe. Auf der Strecke nach Estaing. Vier Kilometer nach Saint-Pierre-de-Besseuéjouls lief ich durch den Weiler Trédou mit seiner schönen Schlosskirche.

Auf spanischen Jakobswegen findet man sie auf Schritt und Tritt und in Frankreich sind sie seltener: die Pilgergraffitis. Oft sollen sie zum Nachdenken anregen oder zum Weiterlaufen aufmuntern. Auf diesem Foto sieht man eine Kritzelei auf einem Jakobsweg-Schild, kurz nach Trédou, auf dem ein Herz und ein Kuss für Pilger („Bisous Pelerin“) zu sehen ist.

Pilger hinterlassen aufmunternde Botschaften (Fotorechte: Dario schrittWeise)

Im verschlafenen Weiler Verrières

Ungefähr zwei Kilometer vor Estaing sah ich im Weiler Verrières ein kleines Gartenhäuschen, das der Besitzer in eine Art Minicafé verwandelt hat. Die meisten Besucher sind selbstverständlich die Pilger. Ich habe mich auch zu den anderen Pilgern gesetzt, obwohl ich keine Pause gebraucht habe. Mich hat einfach die gemütliche Stimmung in geselliger Runde angezogen.

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Das Dörfchen Verrières mit seinen mittelalterlichen Häusern, der schönen Kirche, dem Schloss und der kleinen Bogenbrücke aus Stein hat mir sehr gut gefallen. Bemerkenswerterweise schien zu dem Zeitpunkt auch wieder die Sonne. Mit Verrières verbinde ich noch eine amüsante Erinnerung: Das letzte Motiv in der Fotogalerie wollte ich aus einer erhöhten Perspektive aufnehmen und stieg dafür einen kleinen Pfad hinauf. Plötzlich tauchte eine Pilgerin neben mir auf, weil sie dachte, dass hier der Jakobsweg verläuft. Kaum habe ich ihr erklärt, dass ich hier nur ein Foto machen wollte, schon fragte uns eine weitere Pilgerin, ob hier der Weg nach Estaing sei. Wir klärten lachend den Irrtum auf und liefen nach Estaing weiter.

Estaing – die Perle am Lot

Dreißig Minuten später erblickte ich schon die Dächer des bezaubernden Städtchens Estaing. Der Jakobsweg führt zwar nicht durch die Stadt, jedoch kann ich mir nicht vorstellen, dass jemand dem mittelalterlichen Charme von Estaing wiederstehen kann.

Das Panorama von Estaing (Fotorechte: Dario schrittWeise)

Charakteristisch für Estaing sind die barocke Steinbrücke über den Fluss Lot und das Schloss der berühmten Familie d’Estaing. Die Pilgerbrücke von Estaing aus dem 16. Jahrhundert gehört ebenfalls zum UNESCO Weltkulturerbe. Auf der Brücke befindet sich die Statue des Franz d’Estaing, der in der Stadt verehrt wird. Er war von 1460 bis 1529 Bischof von Rodez.[3]

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Ich schlenderte durch die engen Gässchen der Stadt und genoss die Ruhe, denn Estaing wirkte um die Mittagszeit wie ausgestorben. Ich vermutete, dass es an Nachwehen des Mittelalterfestes gelegen hat, das am Vorabend hier stattgefunden hat. Ich stellte mir vor, wie es hier im Mittelalter ausgesehen haben soll.

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Sehenswert in Estaing sind auch das Schloss und die Stadtkirche, die sich gegenüberstehen. Das Schloss der Familie d’Estaing wurde im 15. und 16. Jh. aus verschiedenen Materialien errichtet. Das imposante Gebäude wird von einem runden Wohnturm dominiert [4]

Die Familie d’Estaing kann auf eine spannende Geschichte zurückblicken. Neben dem Bischof Franz von Estaing gab es eine weitere Reihe von berühmten Töchtern und Söhnen. Guillaume d’Estaing zog beispielsweise mit Richard Löwenherz in den Dritten Kreuzzug. König Philipp II wurde von Dieudonné d’Estaing in der Schlacht von Bouvines gerettet. Der König gestattet ihm daraufhin, seinen Wappen mit königlichen Lilien zu schmücken. Charles-Hector Graf von Estaing versuchte während der Französischen Revolution den König und die königliche Familie zu retten. Er wurde selbst festgenommenen und später hingerichtet. Der letzte berühmte Sohn war Valéry Giscard d’Estaing, der von 1974 bis 1984 französischer Staatspräsident war. [5]

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Ich schaute mich auf dem Platz zwischen dem Schloss und der Kirche um und betrat schließlich das Gotteshaus aus dem 15. Jahrhundert. Darin werden die Reliquien des Hl. Fleuret aufbewahrt. Er war Bischof von Clermont und starb im 7. Jahrhundert in Estaing. Zu seinen Ehren findet jeden ersten Sonntag im Juli eine Prozession statt. Auf dem Altar ist HI. Jakobus abgebildet.[6]

Die Pause des Pilgers am Lot (Fotorechte: Dario schrittWeise)

Nach dem Spaziergang durch die Stadt machte ich eine Pause in einem Café am Lotufer mit dem Blick auf die Steinbrücke. Ich war einer der letzten Gäste des Cafés und beobachtete die vorbeiziehenden Pilger. Einige erkannten mich und kamen auf einen Plausch vorbei. Ich genoss den geschichtsträchtigen Anblick.

Unterwegs nach Massip

Auf meinem Weg nach Massip verschlechterte sich das Wetter wieder ein wenig. Zunächst folgt Via Podiensis den Schleifen von Lot, später steigt sie etwas, ohne den Fluss vollständig aus den Augen zu verlieren.

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Die Strecke bis Massip verlief ohne nennenswerte Höhepunkte. Ich merkte, dass sich die längere Pause in Estaing bemerkbar machte, weil es mir anfangs schwer fiel, wieder in den Laufrhythmus zu kommen. Einige Kilometer vor Massip sah ich einem bemerkenswerten Nachruf an einen Bauern, der laut dem Nachruftext die Pilger immer besonderes freundlich empfing. Offensichtlich erfreute sich der Bauer großer Beliebtheit unter den Pilgern.

Eine überraschende Begegnung

Ungefähr drei Stunden nachdem ich Estaing verlassen habe, kam ich in der Unterkunft „L’Orée du Chemin“ in Massip an. Den Namen könnte man mit „Am Wegesrand“ übersetzen. Im Eingangsbereich stand eine Tafel mit den Namen der Pilger, die an jenem Abend in der Unterkunft übernachten würden. Einer der Namen war „Willem“, ein niederländischer Name. Er kam mir gleich bekannt vor, aber ich tat es zunächst als Zufall ab. Später beim Essen hörte ich dann einen Pilger darüber sprechen, dass er im Juni von Cluny nach Le Puy-en-Velay gepilgert sei und dann aus gesundheitlichen Gründen zurück nach Hause fahren musste. Nun wollte er seine Pilgerwanderung bis Santiago fortsetzen. Mir war klar, dass es sich um Willem handelte, den niederländischen Pilger, der im Juni zur gleichen Zeit nach Le Puy gepilgert ist wie ich. Interessanterweise sind wir uns damals persönlich nie begegnet, lernten aber die gleichen Pilger kennen, Daniel sowie Heinz und Jupp aus dem Ruhrgebiet. Die drei erzählten mir sogar damals von ihm. Diese Geschichte ist erneut ein Beispiel für die besonderen Begegnungen auf dem Jakobsweg. Willem war ebenfalls sehr überrascht. Wir beschlossen, dass wir am nächsten Morgen gemeinsam nach Conques laufen möchten. Conques war mein vorläufiges Ziel. Wie in einem Roadmovie.

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Wichtige Orte auf dem Weg

  • Espalion
  • Saint-Pierre-de-Besseuéjouls (3,5 Kilometer)
  • Trédou (4 Kilometer)
  • Verrières (3,5 Kilometer)
  • Estaing (2,5 Kilometer)
  • Massip (12 Kilometer)

Quellenangaben

[1] Wipper, Heinrich: "Wandern auf dem französischen Jakobsweg. Via Podiensis", Hamburg 2008, S. 51
[2] Forst, Bettina: "Französischer Jakobsweg. Via Podiensis von Le Puy-en-Velay bis zu den Pyrenäen", München, S. 67
[3] Engel, Helmut: "Frankreich: Jakobsweg. Via Podiensis, von Le Puy-en-Velay nach Saint-Jean-Pied-de-Port", Welver, S. 83
[4, 5, 6] Forst, S. 68

10 Antworten auf „Eine unerwartete Begegnung bei Golinhac [Via Podiensis 7]

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  1. Hallo Dario,

    selbst hatte ich bereits einige Male die Gelegenheit einige sehr ungewöhnliche Menschen zu treffen und Eindrücke zu erleben, die mich bis heute noch beschäftigen. Ein Ausbrechen aus dem Alltag begünstigt bedeutsame Begegnungen ungemein. Was treibt die Leute an? Dieser Willem muß ja Eindruck gemacht haben, scheint doch die gesamte Pilgerschar über ihn zu sprechen.
    Auch du bringst die Leute auf deinem Blog regelmäßig zum Lauschen und Staunen.

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    1. Ja, im Alltag sind die meisten Menschen eher mit sich selbst und ihren unmittelbaren Aufgaben beschäftigt. Da bleibt oft nicht viel Muße für außergewöhnliche Erlebnisse. Das bemerkenswerte an der Begegnung mit Willem war auch, dass er 3 Monate zuvor ebenfalls mit mir den gleichen Weg gegangen ist, ohne dass wir uns kennengelernt haben. Ich werde mehr darüber im nächsten Blogbeitrag über meine Jakobsweg-Etappe nach Conques erzählen. Liebe Grüße und einen schönen Sonntag noch, Dario 🙂

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  2. Wundervolle Impressionen! Bin ganz „hin und weg“. Wie wundervoll es sein kann, sich einem Ziel langsam anzunähern, nirgendwo vorbei zu hasten auf gerader Strecke von A nach B! Danke für das Mitnehmen auf die Pilgerreise! 🙂

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    1. Liebe Genette, danke dir, das mache ich gerne. Pilgern ist eine wunderbare Möglichkeit, dem Trubel des Alltags zu entkommen. Dabei bedarf es nicht unbedingt eines religiösen Hintergrundes. Auch „vor der Haustüre“ ist pilgern möglich. Liebe Grüße und einen schönen Abend, Dario 🙂

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