Romanische Kapelle Saint-Michél-d’Aiguilhe

Im Jahr 950 kehrte Gotheschalk, der Bischof von Le Puy, mit seinen Begleitern von seiner Pilgerreise nach Hause zurück. Er war der erste bekannte Santiago-Pilger, der seine Pilgerschaft außerhalb von Spanien begonnen hat. Nach seiner Rückkehr aus Santiago de Compostela, wo er das Grab des Heiligen Jakobus des Älteren aufsuchte, beschloss Gotheschalk, eine Kapelle in Le Puy errichten zu lassen. Mit seiner Pilgerreise löste der Bischof eine europaweite Begeisterung für Pilgerreisen nach Santiago aus.

Der ehemalige Vulkanschlot, auf dem die Kapelle thront, befindet sich in Aiguilhe, einem Ortsteil von Le Puy-en-Velay. Der Solitärfelsen erinnert in seiner Form an eine Nadel. Daher kommt auch der Beiname „d’Aiguilhe“ und bedeutet „Heiliger-Michael-auf der Nadel“. Die Felsnadel wurde schon in der Urzeit als heiliger Ort angesehen und mit einem Dolmen versehen. Später bauten die Römer hier ein Merkurtempel.[1]

Kapelle Saint-Michél-d’Aiguilhe auf dem Rocher Saint-Michél (Fotorechte: Dario schrittWeise)

Ich besichtigte im Juni 2017 Le Puy-en-Velay mit seiner besonderen Kapelle. Nachdem ich über die 250 im Felsen gehauene Stufen zur Kapelle hinaufgestiegen bin, erwartete mich ein atemberaubendes Panorama. Um die Kapelle führt ein kleiner Rundgang, von dem aus die ganze Stadt bewundert werden kann.

„Portal zum himmlischen Jerusalem“

Das Portal der Kapelle ist ein Meisterwerk der romanischen Kunst. Die architektonische Bildersprache war damals sehr ausdrucksvoll, weil sie ein breites Publikum erreichen sollte, welches meistens des Lateinischen oder nicht selten des Lesens unkundig war. Deswegen ist auch die Kapelle Saint-Michél-d’Aiguilhe reich mit Figuren und Ornamenten sowie mit Fresken im Inneren geschmückt.

Das vielschichtige Portal soll die Besucher schon bei ihrer Ankunft beeindrucken. Nachdem ein Besucher über die vielen Stufen den ungefähr 85 Meter hohen Felsen erklimmt, befindet er sich vor dem beeindruckenden Portal, das auch „das Portal des himmlischen Jerusalems“ genannt wird.

Portal des himmlischen Jerusalems (Fotorechte: Dario schrittWeise)

Im oberen Bereich der Fassade aus der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts befinden sich fünf Flachreliefs mit Porträtbüsten, die jeweils an ihren charakteristischen Attributen und mit den entsprechenden Inschriften erkannt werden können. In der Mitte befindet sich die Christusfigur, die links von Maria und rechts vom Erzengel Michael, dem Namenspatron der Kapelle, umrahmt wird. Während Christus als Weltenherrscher dargestellt wird, hält Maria ein Gefäß als Symbol der Jungfräulichkeit und des Heiligen Geistes in ihrer Hand. Auf der äußersten rechten Seite hält der Heilige Petrus seinen berühmten Schlüssel zum Paradies fest in seiner Hand. Auf dem linken Rand hält Johannes ein Buch mit einem Kreuz in seiner linken Hand, während er seine rechte Hand dem Betrachter zuwendet.

Fünf Relieffiguren mit dem Okulus (Fotorechte: Dario schrittWeise)

Unter den fünf Figuren brachten die mittelalterlichen Baumeister eine kleine Öffnung an, den sogenannten Oculus oder das Rundfenster an, den sie mit pflanzenartigen Ornamenten umsäumten. Ich vermute, dass mit dem Okulus das Innere der Kapelle zusätzlich beleutet werden sollte. Für diese Theorie könnte das Rundfenster oberhalb des Portals sprechen, das auf dem letzten Foto des Beitrags zu sehen ist.[2]

Das Tympanon mit drei Bogenläufen (Fotorechte: Dario schrittWeise)

Das halbkreisförmige Tympanon ist ohne Schmuck, was eine Vermutung nahelegt, dass es ursprünglich bemalt war. Im ersten Bogenlauf, der sich über dem Tympanon befindet, scheinen Blattornamente aus zwei menschlichen Köpfen zu wachsen. Der anschließende Kleeblattbogen besteht aus drei großen Feldern. Das mittlere Feld beinhaltet eine Darstellung des Lammes, das in den benachbarten Feldern mit acht Ältesten der Apokalypse und den Symbolen von Evangelisten umgeben ist.[3]

Zwei Meerjungfrauen (Fotorechte: Dario schrittWeise)

Ein interessantes Detail der Fassade sind auch die beiden einander zugewandten Sirenenfiguren im Türsturz. Gestalten der Mythologie und Fabelwesen waren neben biblischen Figuren und pflanzenartigen Ornamenten beliebte Motive des romanischen Bildprogramms.[4]

Der Begriff „Romanik“ ist eine Erfindung der französischen Mediävisten und Archäologen des 19. Jahrhunderts. Damit wollten die Wissenschaftler die wesentlichen Merkmale der bildenden Kunst des 11. und 12. Jahrhunderts in Westeuropa definieren. Sie sollte auch gleichzeitig den genannten Zeitraum von der karolingischen und ottonischen Kunst zwischen dem 8. und 10. Jahrhundert sowie von der nachfolgenden Gotik abgrenzen.[5]

Figurenkapitell (Fotorechte: Dario schrittWeise)

In den figürlichen Kapitellen der beiden Säulen, die den Eingang flankieren, befinden sich jeweils zwei Figuren. Auf der rechten Seite halten sich zwei menschliche Gestalten an den Blattornamenten fest. Ein wenig scheinen sie das Thema fortzusetzen, das im dritten und äußersten Bogenlauf begonnen wurde, beobachtende Figuren, die sich im Blattwerk verstecken.

Die Kapelle wurde größtenteils im 19. Jahrhundert und die Fresken im Inneren zuletzt im Jahr 2004 restauriert. Mir gefiel die Stimmung in der Kapelle, die den Besucher gleich still und nachdenklich werden lässt. Der Ort strahlt eine heilsame Ruhe aus, die mich nach dem Trubel in der Großstadt herunterkommen ließ. Ich vergaß auch die Anstrengungen des Aufstiegs. Auch die Fresken mit Jesus, den Heiligen und Engeln zogen mich in ihren Bann.

Einer der beiden Wasserspeier bzw. Gargoyles neben dem Eingang (Fotorechte: Dario schrittWeise)

Die Baugeschichte der Kapelle ist auch interessant. Der Bischof Gotheschalk ließ im späten 10. Jahrhundert einen einfachen Bau direkt und ohne Fundament auf dem Felsen errichten. Ungefähr ein Jahrhundert später, gegen Ende des 11. oder zu Beginn des 12. Jahrhunderts, wurde das Gebäude um eine Vorhalle und eine kreisrunde Galerie erweitert. Die Erweiterung folgte der Form des Felsens und passte sich so genau an die natürlichen Gegebenheiten an. Der kreisförmige Raum bekam die Funktion des Kirchenschiffs. Der Chor mit dem Altar befindet sich noch im Bereich des ersten Baus.[6]

Über fünf Stufen gelangte ich durch das Eingangsportal in den Innenraum, der mit frühromanischen Gewölben überfangen ist. Sie werden wegen ihrer Form Kreuzgratgewölbe genannt. Zwei einfache Gewölbe gehen dabei ineinander über und bilden in ihrem Schnittpunkt eine Kreuzform.[7]

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Engel Michael

Im Inneren erinnert eine Skulptur neueren Datums die Besucher daran, dass die Kapelle im Jahr 861 dem Erzengel Michael geweiht wurde. Wallfahrtsorte, die dem Erzengel Michael geweiht waren, wurden während des Mittelalters auf erhöhten Positionen gebaut. Auf diese Weise sollten die Nähe zum Himmel und Erzengel zusätzlich betont werden. Saint-Michél-d’Aiguilhe ist ein gutes Beispiel für die romanische Architektur, die einerseits tief mit der jeweiligen Region verbunden und andererseits sehr naturnah war. Andere Beispiele sind die Abtei Mont Saint Michél oder die Basilika Sainte Foy von Conques in der Auvergne. Auch die Kirche des Heiligen Michaels von Schwäbisch Hall ist auf einem Hügel errichtet.[8]

Erzengel Michael (Fotorechte: Dario schrittWeise)

Neben der erhöhten Position, auf der die Kapelle gebaut wurde, sollte auch ein Glockenturm die Vertikalität des Gebäudes steigern. Romanische Bauwerke gewannen allgemein im Vergleich zu früheren Gebäuden an Höhe. Sie waren Symbole der kirchlichen und kaiserlichen Macht und sollten bereits aus der Ferne gesehen werden. Sie dienten somit ebenfalls als Orientierungspunkte für Pilger, Wallfahrer und Wanderer.[9]

Der Eingang mit einem Rundfenster (Fotorechte: Dario schrittWeise)

Über dem Eingang in die Kapelle ist das bereits erwähnte Rundfenster zu sehen, bei dem ich vermute, dass es mit dem Okulus aus dem oberen Teil der Fassade verbunden ist. Bei meinem Besuch in Le Puy ist mir dieser Zusammenhang nicht aufgefallen, so dass ich nicht danach gesucht habe.

Die Kapelle Saint-Michél-d’Aiguilhe gefiel mir bei meinem ersten Besuch in Le Puy außerordentlich gut und ich habe danach beschlossen, einen Blog-Beitrag darüber zu schreiben. Bei meinen Recherchen fiel mir auf, dass es wenig deutschsprachige Literatur und Internetseiten zu dem Thema gibt. Die Kapelle ist in meinen Augen jedenfalls ein ganz spezieller Ort und verdient mehr Aufmerksamkeit. Das Gebäude wurde auch zurecht zu einem der beliebtesten Bauwerke Frankreichs gewählt.

Quellenangaben

[1] Retterath, Ingrid: „Jakobsweg Trier – Le Puy“, Conrad-Stein-Verlag, Welver 2014, S. 333
[2] Baral i Altet, Xavier: Romanik. Städte, Klöster und Kathedralen, Köln 1998, S. 127
[3] Baral i Altet, S. 127
[4] Baral i Altet, S. 127
[5] Prina, Franzesca: Geschichte der Architektur: Romanik, München  S. 7
[6] Baral i Altet, S. 56
[7] Baral i Altet, S. 126
[8] Prina, S. 14
[9] Prina, S. 14

8 Antworten auf „Romanische Kapelle Saint-Michél-d’Aiguilhe

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  1. Gotheschalk, der Schalk des Gothen? Thomas Gottschalk?
    Dieses Tympanon wirkt auf mich ja beinah schon arabisch-islamisch, zumindest wenn Du schnell draufschaust, fehlt nur noch die grüne Farbe …
    Carpe solem, heut wird geradelt und gewandert, Wohlsein, der El

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  2. Hallo Dario.
    Meine erste Frage: Was ist ein Dolmen?
    Nächste Frage: Hast du Architektur studiert oder hast du die Beschreibungen recherchiert?
    Ich mein, ich schau mir auch gerne alte Gemäuer und Kirchen an, könnte sie aber nicht so deailiert mit Bedeutungen beschreiben.

    Es war wieder ein interessanter Beitrag, wo man direkt denkt „da muss ich auch mal hin.“
    LG, Nati

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    1. Hallo Nati, vielen Dank dir 🙂 Ich finde es toll, wenn meine Leser die Lust bekommen, zu dem beschriebenen Ort hinzufahren. Ein Dolmen ist ein steinzeitliches Bauwerk aus mehreren Menhiren (Hinkelsteinen), die zu einer Art Tisch oder Grabkammer zusammengesetzt wurden. Sie hatten in der Regel eine Deckplatte. Danke für den Hinweis, ich werde den Begriff in den kommenden Tagen im Beitrag erklären.

      Ich habe Architektur nicht als eigenständiges Fach studiert. Ich finde es aber sehr interessant, mich mit dem Thema zu beschäftigen. Der Beitrag ist ein Ergebnis meiner Recherche in Kombination mit eigenen Gedanken. Mein Blog ist für mich auch eine gute Gelegenheit, neue Sachen zu lernen. Eine Herausforderung besteht auch darin, Wissen spannend zu verpacken. Leider gibt es nicht viel deutschsprachige Literatur zur Kapelle.

      Liebe Grüße, Dario 🙂

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