Sal’iq: der vergessene Stamm [3]

Im zweiten Teil der Geschichte „Sal’iq: der vergessene Stamm“ begegneten Tal’ok und Sal’iq in einem Salzstollen Bergarbeitern, die ihre Sprachbarriere und die anfänglichen Berührungsängste überwanden, um sich ihnen zu nähern. Tal’ok und seine Tochter trauten sich schließlich, in das Dorf der Unbekannten mitzukommen. Dort erklärten sie sich bereit, den Dorfbewohnern ihre Geschichte zu erzählen.

Sal’iq: der vergessene Stamm [3]

Belot berührte Tin’iq sanft an der Schulter und flüsterte ihr etwas ins Ohr, um die Anderen nicht zu stören.
„Unser Dorfoberhaupt Ilit möchte auch eure Geschichte hören“, übersetzte Tin’iq, „er hat euch zu sich in sein Langhaus in der Dorfmitte eingeladen.
„Wenn ihr mögt, können wir gleich zu ihm gehen“, schlug Rul’ot vor.
„Ja, das können wir gerne tun“, antwortete Tal’ok, „dann können wir uns auch gleich bei ihm für eure Gastfreundschaft bedanken.“
„Gehen wir zum Chef,“ sagte Sal’iq vergnügt, während sie mit dem Hauswiesel spielte und ihm den Wollknäuel zuwarf, den sie in seinem Körbchen fand. Das pelzige Tier lief verspielt hinter dem Ball her.

Belot führte die kleine Gruppe an und zeigte ihnen auf dem Weg zur Hütte des Dorfoberhauptes das kleine Dorf. Sie liefen am Stall mit drei Kühen und zwei Bergziegen vorbei. Die meisten Hütten waren bewohnt, neben dem Stall hatten sie noch einen Brunnen und die Hütte des Heilers, wie Belot es ihnen erklärte. Auf einer Anhöhe befand sich noch eine Ansammlung von Kornspeichern auf Stelzen und ein Gebäude mit den Salzbrocken, die sie in den Bergstollen sammelten. Ein wenig außerhalb des Dorfes befanden sich die Schmiede und eine Backstube für Speisen, die auf großer Hitze gebacken werden mussten.

Auf dem Weg zur Hütte des Dorfoberhaupts liefen sie über eine Wiese, die vereinzelt mit Wüstensand bedeckt war. Das einzige Langhaus war wie alle Häuser ebenfalls aus Holz gebaut und das schräge Dach mit Schilf bedeckt. Das Dorfoberhaupt wartete auf sie im Eingangsbereich. Er war hager und großgewachsen, seine langen, grauen Haare flocht er zu einem Pferdeschwanz, der mit seinem bis zur Brust reichenden Bart harmonierte. Der Anführer der Bergarbeiter trug ein einfaches Stoffhemd über einer schwarzen Hose.
„Herzlich willkommen“, begrüßte er sie und Tin’iq übersetzte, „kommt nur herein. Mein Name ist Ilit“, stellte er sich vor, „lasst euch nicht von der großen Halle einschüchtern. Irgendwo müssen ja alle Dorfbewohner gleichzeitig Platz finden können. In dieser Hütte wohnen meine Familie und ich, hier versammeln sich die Bewohner und hier tagen unser Dorfrat und unser Gericht. Deswegen sieht es hier so riesig aus“, erklärte ihnen Ilit.

Neben der Eingangstür stand die Holzskulptur eines Bergbauern, der ein Salzkristall in die Höhe hielt, um es zu begutachten. In der Küche roch es nach verschiedenen Gewürzen und Kräutern. An den Wänden hingen Schilde und bunte Stoffbanner, die in vielen Bildern die Geschichte des Dorfes erzählten.

Ein untersetzter Mann trat hinzu. Er trug ein Lederwams über ein grünes Leinenhemd. Der Mann schüttelte ihnen die Hand und fuhr durch Sal’iqs Haare. Er lächelte sie dabei an und sein breiter schwarzer Schnurrbart schüttelte sich dabei, was Sal’iq zum Lachen brachte.
„Das ist Hedol, mein Stellvertreter“, sagte Ilit, „er wird sich ebenfalls eure Geschichte anhören. Vielleicht fällt uns gemeinsam eine Idee ein, wie wir euch helfen können. Kommt mit in meinen kleinen Versammlungsraum.“

Zwei weitere Männer saßen darin, es waren die engsten Vertrauten von Ilit, wie er ihnen erklärte. Alle nahmen Platz und die Neuankömmlinge begannen, ihre Geschichte zu erzählen.

„Wie ihr wisst ist vor drei Jahren ein Krieg zwischen den Provinzfürsten Sothar, Igon und Telor ausgebrochen“, begann Tal’ok zu erzählen. „Unsere Region Itan versuchte neutral zu bleiben, aber die Truppen der verfeindeten Provinzen fielen immer wieder in unser Land ein.“

Alle Anwesenden hörten wie gebannt zu, während Tin’iq und Rul’ot als Übersetzer fungierten.

„Eines Tages beschloss Fürst Telor, unsere Region zu besetzen, um hier seine Truppen zu stationieren. Sie mordeten, plünderten und brandschatzten nach Belieben. Auch unsere friedliebende, naturnahe Religion gefiel ihnen nicht. Wir sind ein Stamm von einfachen Bauern und Jägern, müsst ihr wissen. Wir wollten nur in Ruhe leben und hatten nicht viele Soldaten, die uns hätten verteidigen können. Viele von uns mussten fliehen, meiner Familie und mir ging es nicht anders“, Tal’ok machte Pause, weil er mit Tränen kämpfte. Sal’iq bemerkte das Zögern ihres Vaters und umarmte ihn.

Auch Rul’ot und Tin’iq fiel es sichtlich schwer, weiter zu übersetzen. Sie waren bewegt von den Erinnerungen, die Tal’oks Erzählung hervorrief. Rul’ot schaute seine Frau an und ergriff sanft ihre Hand, die sie auf den Tisch legte. Tin’iq fand den Mut, weiter zu übersetzen.

„Meine Frau Cet’iq und ich beschlossen, mit unseren beiden Töchtern, Nal’ih und Sal’iq, zu meinem Bruder Def’on nach Teram in der Provinz Rutesi zu fliehen. Damals herrschte noch kein Krieg in jenem Land, heute änderte sich das leider“, erzählte Tal’ok emotional.

„Ja, unsere Nachbarprovinz wird ebenfalls des Öfteren von einfallenden Truppen in Angst und Schrecken versetzt“, pflichtete ihm das Dorfoberhaupt Ilit bei, „bei Teram gibt es unseres Wissens aber keine Probleme. Erzähle aber bitte weiter“, ermutigte ihn Ilit.

„Hoffentlich bleibt es auch weiter ruhig bei meinem Bruder“, erwiderte Tal’ok traurig und setzte seine Geschichte fort, „nachdem wir unser Dorf verlassen hatten, schlossen wir uns zuerst anderen Stammesgenossen an, die ebenfalls vor dem Krieg fliehen wollten. Wir kamen auch sehr weit, wurden jedoch zweimal von den feindlichen Truppen überfallen. Einige von uns wurden getötet und verletzt“, erzählte er mit belegter Stimme, „wir konnten uns retten, mussten uns aber von der Gruppe trennen, weil wir ein zu großes und leichtes Ziel waren. Leider wollten unsere Feinde nicht akzeptieren, dass wir keine feindseligen Absichten hegten, sondern nur in eine friedliche Region flüchten wollten.“

„Unser kleines Volk existiert heute kaum noch“, stellte er fest, „übrig sind nur wir und vereinzelte weitere Stammesgenossen, die in alle Himmelsrichtungen verstreut sind“, erinnerte sich Tal’ok traurig. Die Versammelten hörten aufmerksam und betrübt zu.

„Auch zu viert war es sehr schwierig, an den Truppen unbemerkt vorbeizukommen. Sie suchten uns mit Pferden und Spürhunden. Wir entschieden uns dafür, uns zu trennen und uns bei meinem Bruder in Rutesi zu treffen. Meine Ehefrau Cet’iq reiste mit unserer älteren Tochter Nal’ih und ich mit Sal’iq weiter. Seitdem hörten wir nichts mehr von ihnen“, erzählte er weiter und seine Unterlippe zitterte leicht.

„Ja, wer weiß, was mit ihnen passierte?“ fragte sich Sal’iq und kleine Tränen kullerten ihr die Wangen herunter, „ich wünschte, sie wären hier bei uns!“ rief sie niedergeschlagen. Tal’ok umarmte und tröstete seine Tochter.

Nach einigen Minuten der Stille setze er seine Erzählung fort: „Sal’iq und ich mussten die Wüste überqueren und schafften es nur mit Hilfe einer Gruppe von Handelsreisenden. Drei Tage nachdem wir uns von ihnen verabschiedet hatten, gerieten wir in einen Sandsturm, vor dem wir nur mit äußerster Mühe Schutz finden konnten. Danach habt ihr uns zum Glück in der Höhle entdeckt,“ schloss er den Kreis zu den Ereignissen, die auch den Anwesenden bekannt waren.

Nachdem Tal’ok und Sal’iq ihre Geschichte zu Ende erzählt hatten, herrschte im Raum bedrückende Stille. Niemand wagte, etwas zu sagen. Einige der Zuhörer kämpften sogar mit Tränen.
Ilit ergriff als erster das Wort: „Eine bewegende Geschichte. Hoffentlich geht es eurer Familie gut“, sagte er leise, „Belot, du planst immer die Route unserer Karawane nach Dilmuth. Wäre es ein zu großer Umweg, unsere Gäste nach Rutesii, in der Nähe von Teram zu bringen?“
„Wir könnten es schaffen“, sagte er nach einer kurzen Denkpause. „Bei Teram gab es bisher keine Kämpfe. Wir sollten trotzdem vorsichtig sein. In einem der Wagen gibt es einen Hohlraum, darin könnten sie sich verstecken, wenn es gefährlich wird.“
„Was denken die anderen?“, fragte Ilit in die Runde, „ist Belots Idee gut?“
„Ich denke, die Reise wird gefährlich sein, aber wir könnten sie schaffen. Bisher gab es zumindest keine Zwischenfälle mit den Truppen der kriegerischen Provinzfürsten“, bewertete Ilits Stellvertreter den Plan, „wir könnten sie nach einem kleinen Umweg bis auf wenige Stunden vor Teram begleiten, den Rest müssten sie alleine weiterlaufen.“
Auch die Anderen fanden die Idee gut.

„In Ordnung, ich bin auch einverstanden“, entschied Ilit, „ihr müsst euch nur im Klaren sein, dass wir nichts garantieren können. Die Situation ist sehr unsicher in unserer Region.“
„Wir möchten es probieren“, sagte Sal’iq mutig. Tal’ok lächelte stolz.
„Ja, das möchten wir“, fügte er an.
„Gut, in sieben Tagen geht es los“, ergänzte Hedol.

Eine Woche verging. Tal’ok half während dieser Zeit den Dorfbewohnern bei Feldarbeiten und in der Küche. Sal’iq wollte auch mithelfen, Belot und seine Frau versuchten jedoch sie zu überzeugen, mehr Zeit mit anderen Kindern in ihrem Alter zu verbringen. Sal’iq ließ sich nur teilweise umstimmen und Belot schüttelte jedes Mal lächelnd den Kopf, als er sie bei der Arbeit antraf.

Am Morgen der Abreise der kleinen Salzkarawane versammelten sich mehr Dorfbewohner als üblich. Drei Pferdewagen befüllt mit Holzkisten voller Salzblöcke standen abfahrbereit vor der Hütte des Dorfoberhaupts. Im mittleren saßen Sal’iq und Tal’ok neben Rul’ot, der die beiden Pferde führte. Die anderen beiden Gespanne führten Hedol und Belot an.
„Ich wünsche euch eine gute Reise“, sprach Ilit zu ihnen, „hoffentlich kommt ihr unbeschadet an und seht eure Familie gesund in Teram wieder.“
Tal’ok und Sal’iq bedankten sich bei ihren Gastgebern und Hedol gab das Zeichen zum Abfahren. Die Karawane setzte sich in Gang.

— Fortsetzung folgt im Teil 4

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