Sal’iq und ihr Vater reisten im vierten Teil der Kurzgeschichte „Sal’iq: der vergessene Stamm“ mit den Dorfbewohnern in die Provinz Rutesi, wo Tal’oks Bruder wohnte. Als sie im Wald Rauch sahen, bat Tal’ok seine Tochter, auf ihn zu warten, bis er zurückkommt.
Sal’iq: der vergessene Stamm [5]
Sal’iq saß in ihrem Versteck auf dem Hügel und beobachtete mit sorgenvoller Miene die Rauchschwaden hinter den Baumwipfeln. Die schwarzgraue Wolke wurde immer dichter. Mehrere kleine bepelzte Nagetiere huschten verängstigt und in sicherer Entfernung an ihr vorbei. Sie wartete sehr lange und blickte bedrückt in die Richtung, in der sie ihren Vater vermutete. Lange kauerte sie angespannt hinter dem Dickicht. Der Rauch umhüllte den Wald und kam zwischen den Bäumen hervor wie eine riesige geisterhafte Erscheinung, die mit ihren Händen um sich greift.
Sal’iq drehte sich um, als sie Hufgetrappel hörte. Den Geräuschen nach zu urteilen, galoppierten mehrere Pferde in ihre Richtung. Plötzlich tauchten silberne Masken aus dem Rauchmeer hervor. Sie schrak zusammen, behielt aber die Fassung und blieb weiterhin in ihrem Versteck. Wie Gespenster mit spiegelnden Totenschädeln ritten die Soldaten zwischen den Bäumen hindurch in ihrer unmittelbaren Nähe. Sie trugen schwere Kettenpanzer, Helme mit gespenstischen Gesichtszügen und hielten jeweils ein kurzes Schwert in ihren Händen. Hinter sich zogen die todbringenden Reiter an den Satteln befestigte Körbe mit angezündeten Ästen und Stroh, die alles um sich in Brand setzten. Das verängstigte Mädchen zitterte und versuchte, sich noch kleiner zu machen, um von dem vorbereitenden Trupp nicht entdeckt zu werden. Trockenes Gras und Dickicht fingen Feuer, welches sich schnell ausbreitete. Die Flammen erfassten die jahrhundertealten Bäume. Funken flogen gen Himmel. Der abendliche Himmel färbte sich rot.
Sal’iq wartete, bis sie die Soldaten nicht mehr wahrnehmen konnte. Die Hitze stieg und die Rauchschwaden nahmen ihr die Luft zum Atmen. Sie hustete. Ein letztes Mal blickte sie schmerzerfüllt in den Wald. Ihr Vater kam nicht zurück. Die junge Nohamatuaq konnte nicht mehr warten. Das flammende Inferno drohte, sie zu umzingeln. Eine Zeit lang lief sie in die entgegengesetzte Richtung, merkte aber, wie die Wärme um sie stieg. Panik zeigte sich in ihrem Gesicht, denn das Feuer loderte mittlerweile von beinahe allen Seiten. Sie hüpfte über eine niedrige Feuerwand und spürte eine leichte Verbrennung an ihrem Knöchel. Mit schmerzverzerrtem Gesicht fasste sie sich an der Stelle, lief aber entschlossen weiter. Ihr Überlebenswille überwand die Verzweiflung. Jedes Mal, wenn sie sich gerettet wähnte, sah sie den nächsten Vorhang aus Flammen. Die Feuersbrunst verzehrte alles um sich. Mit glühenden Klauen griff sie nach dem Gestrüpp und den Bäumen. Der beißende Rauch trieb Tränen in Sal’iqs Augen und sie schwitzte stark wegen der Hitze, die sie umgab. Das Mädchen rannte und versuchte einen Ausweg aus dem brennenden Labyrinth zu finden. Langsam begann sie, die Hoffnung zu verlieren. Mit einer Hand verdeckte sie den Mund und sah sich nach allen Seiten um.
Hinter dem rötlichen Flimmern sah sie einen Schatten vorbeiziehen. Ein anderes Lebewesen schien sich ebenfalls in der brennenden Falle zu befinden. Hinter der Flammenwand entdeckte sie eine rutesianische Bergziege. Das weiß-braune Huftier folgte verschreckt ihren Überlebensinstinkten. Sal’iq rannte der Ziege nach, so schnell sie konnte. Ungefähr dreißig Minuten später verlor das erschöpfte Mädchen ihre tierische Retterin aus den Augen und ließ die Feuerhölle hinter sich. Sie zwang sich, keuchend und hustend weiter zu rennen, weil die Hitze und der Rauch immer noch zu spüren waren. Sie musste mehr Abstand zum Feuermeer gewinnen.
Nach einigen Stunden hörte Sal’iq das Rauschen von Wasser. Sie kam an das Ufer eines breiten Flusses. Gierig stillte sie ihren Durst und betrachtete sich eine Zeitlang im Wasser, in dem sich das unheimliche Leuchten der Flammen spiegelte. Die tapfere Nohamatuaq überprüfte, ob sie schwerwiegende Verbrennungen und Verletzungen davontrug und wusch sich das rußgeschwärzte Gesicht. Ihre schwarzen, langen Locken litten ein wenig, weil die Flammen einige Haarbüschel versengten. Vorsichtig kühlte sie mit Wasser eine verbrannte Stelle am linken Knöchel. Ermattet bereitete sie am Ufer notdürftig ein Nachtlager aus kleineren Ästen und Moosflächen, auf das sie sich hinlegte. Das Mädchen weinte sich in den Schlaf.
Am nächsten Morgen wurde Sal’iq von näherkommenden Stimmen geweckt. Sie sprang von ihrer provisorischen Schlafstätte auf. Zwei Männer saßen in einem Kahn und paddelten stromabwärts. Erschrocken wollte sie in den Wald rennen, als sie ihr Boot ans Ufer manövrierten. Einer der beiden Männer betrachtete sie kurz und sprach sie in ihrer Sprache an:
„Warte, Kind, laufe nicht weg“, er beherrschte die Sprache ihres Stammes zwar nicht fließend, Sal’iq konnte ihn aber sehr gut verstehen. Sie zögerte.
„Wie kommt es, dass du meine Sprache sprichst?“, wollte Sal’iq verwundert wissen, jederzeit bereit, davonzulaufen.
„Mein Großvater war ein Nohamatuaq. Er überquerte vor mehreren Jahrzehnten die große Wüste, um in diesem Land zu leben“, erinnerte sich der Mann, während sein Begleiter das Holzboot aus dem Fluss zog und an einem Baumstamm befestigte. Beide hatten lange, pechschwarze Haare und zerzauste Bärte. Sie trugen Hemden und Hosen aus blaugrauem und braunem Stoff.
„Als ich dich von unserem Boot aus sah, vermutete ich, dass du eine Nohamatuaq bist“, er schaute sie freundlich an, „es sind deine schwarzen Haare, die bronzefarbene Haut und deine Kleidung, die mich auf die richtige Spur brachten. Schließlich war ich mir mit meiner Vermutung ganz sicher, als wir uns dir näherten und ich deinen Anhänger mit dem Zeichen der drei Flüsse erkannte“, sagte er und zeigte ihr den identischen Anhänger, den er um seinen Hals trug, „Ein Geschenk meines Großvaters. Er sagte mir, wenn ich den Anhänger trage, werde ich unsere alte Heimat immer im Herzen tragen.“ Sal’iq betrachtete das so vertraute Zeichen mit einer tiefen Traurigkeit in ihren großen Augen.
„Wie unhöflich von mir“, entschuldigte sich ihr Gesprächspartner, „mein Name ist Dot und mein Freund heißt Nalis, wir sind einfache Fischer und waren gerade auf dem Weg in unser Dorf“, er zeigte auf den Angesprochenen, der bereits eine Decke auf dem Boden ausbreitete und darauf Teller mit Fisch und anderen Speisen verteilte. Mit einer einladenden Geste bat er sie, sich zu ihm zu setzen.
Nachdem sie gegessen hatten erzählte Sal’iq ihnen, wie sie hierhergekommen ist. Beide Fischer hörten mit ernster Miene zu. Dot übersetzte leise und Nalis nickte. Mehrfach musste Sal’iq mit den Tränen kämpfen.
„Bitte, ihr müsst mir helfen, wieder zurückzukehren“, bat Sal’iq sie verzweifelt, „wir müssen im Dorf nachsehen, ob wir meine Familie retten können.“
„Ich befürchte, das können und sollten wir besser nicht tun“, bedauerte Dot, „die Provinz Rutesi befindet sich im Kriegszustand, wenn wir auf dieser Seite der Grenze bleiben, sind wir in Sicherheit“, erklärte er ihr und unterhielt sich kurz mit Nalis, der ihm in seiner Sprache antwortete und zustimmend nickte.
„Wir können dich aber nach Dilmuth bringen“, fügte Dot hinzu, „dort kannst du deine Freunde treffen, vielleicht können sie dir weiterhelfen. Außerdem soll es in Dilmuth auch eine Gemeinschaft der Nohamatuaq geben, die könnte auch etwas wissen.“
„Danke euch“, flüsterte Sal’iq traurig.
„Du wirst sehen, alles wird gut“, ermutigte sie Dot und nahm sie in Arm, „am besten fahren wir gleich los, damit du deine Freunde finden kannst.“
— Fortsetzung folgt im Teil 6 —
Hallo Dario! Wünsche Dir ein gesegnetes Neues Jahr 2019! Sorry für meine lange Abwesenheit, aber irgendwie „verliere“ ich mich manchmal in den Weiten des Internet. ;-( LG Michael
Die Geschichte ist wirklich toll geschrieben! Respekt!
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Hallo Michael, Dankeschön, ich wünsche dir auch ein wunderbares und gesundes neues Jahr. Danke ebenfalls für das Lob. Kein Problem wegen der Abwesenheit, wie geschrieben, ich freue mich, wenn sich liebe Leser und Mitblogger melden, unabhängig von der Häufigkeit 🙂 Liebe Grüße, Dario 🍀🐞
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Danke für das Verständnis, Dario! LG Michael 🍀🐞
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Schön, dass es immer wieder in der Not Hilfe gibt…hoffentlich geht alles gut aus.
Liebe Grüße Ariana
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Hallo Ariana, Helfer in der Not sind immer gut 🙂 Danke und liebe Grüße, Dario 🍀
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