In der Hafenstadt Dilmuth angekommen, sieht sich Sal’iq im siebten Teil der Kurzgeschichte einem Entführungsversuch einer Bande des Kriminellen Sorihal ausgesetzt. Im letzten Moment gelingt ihr die Flucht. Im Hafen findet sie das Schiff des Kapitän Gelan, der mit ihren Freunden Handel betreibt. Auf dem Schiff wartete Rul’ot auf sie. Nach einem erneuten Übergriff von Sorihal können sich Rul’ot und Sal’iq dank eines beherzten Einsatzes der Matrosen retten.
Sal’iq: der vergessene Stamm [8]
Rul’ot und Sal’iq verließen den Hafen und liefen an der Stadtmauer entlang.
„Das Zeltlager befindet sich auf einem Hügel am Stadtrand“, erklärte Rul’ot, „dort wartet jemand auf dich, es soll aber eine Überraschung bleiben. Aber erzähl‘, wo ist dein Vater?“ fragte er besorgt.
„Tal’ok ist leider verschwunden, als die Soldaten das Dorf angegriffen haben“, sagte Sal’iq traurig.
Rul’ot deutete auf einen kleinen Hügel vor ihnen: „Dort ist das Zeltlager. Hier kannst du dich erholen und sehen, welche gute Nachrichten auf dich warten. Ich habe versprochen, nichts zu verraten.“
Die Zelte der Nohamatuaq bestanden aus schweren Stoffen und Fellen. Sie unterschieden sich in Farbe und Größe. Einige reichten nur für drei bis vier Personen, die anderen wiederum für mehr als fünf. Kleine Kinder spielten zwischen den Zelten und Erwachsene saßen oder standen davor und unterhielten sich. In der Mitte des kleinen Zeltdorfes befand sich eine kleine Lichtung mit einer Feuerstelle zum Kochen von Mahlzeiten. Ein großer Topf hing an einer Kette über dem Feuer. Ein Mann rührte vorsichtig darin und gab nach und nach weitere Zutaten hinzu.
Eine Frau kam zögernd auf sie zu. Ihr langes, welliges schwarzes Haar trug sie offen. Ihre sanften Gesichtszüge, die kleine Nase und die dunkle Hautfarbe ähnelten Sal’iq. Ungläubig schaute sie die Neuankömmlinge an und beschleunigte ihr Tempo.
„Sal’iq“, rief sie ergriffen, „mein kleiner Mond!“
„Mutterchen“, antwortete das Mädchen mit zitternder Stimme, „wie sehr habe ich dich vermisst.“
Cet’iq umarmte ihre kleine Tochter innig und küsste sie mehrfach auf die Stirn und die beiden Wangen.
„Ich bin so glücklich, dass du es auch bis hierher geschafft hast“, sprach sie leise und drückte Sal’iq fester, als ob sie sie wieder verlieren könnte.
Aus einem der Zelte kam ein etwa 10-jähriges Mädchen auf sie zu, gefolgt von einem schlanken, großen Mann. Es waren Sal’iqs Schwester und Onkel.
„Nal’ih“, rief Sal’iq freudestrahlend und lief ihr entgegen.
„Kleine Schwester, wie groß du geworden bist“, erwiderte Nal’ih glücklich. Die beiden Schwestern umarmten sich. Trotz großer Wiedersehensfreude lächelte Sal’iq nur müde. Nal’ih war ein aufgewecktes und fröhliches Mädchen, das um einige Zentimeter Sal’iq überragte.
„Das ist Def’on, der Bruder deines Vaters, dein Onkel“, stellte Cet’iq den großen Mann vor. Def’on umarmte sie herzlich: „Schön, dass ich dich auch endlich kennenlernen kann, auch wenn die Umstände besser sein könnten.“
„Ich freue mich auch, Onkel“, erwiderte sie.
„Wo ist Tal’ok?“ fragte Nal’ih sorgenvoll. Ihre Mutter wartete ebenfalls gespannt auf die Antwort.
Sal’iq rang mit ihren Gefühlen. Sie wollte etwas sagen, doch konnte sie kein Wort hervorbringen. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Cet’iq drückte sie an sich. Sie verstand alles.
„Gehen wir in unser Zelt, dort kannst du dich erholen“, sagte ihre Mutter, „alles andere kann jetzt warten.“
Sal’iq brauchte etwas Zeit, um sich von den erschütternden Ereignissen zu erholen. Am nächsten Tag erzählte sie, wie sie nach Dilmuth gekommen ist. Ihr fiel es besonderes schwer zu erklären, wie ihr Vater im Waldbrand verschwunden ist. Das Wiedersehen mit einem Teil ihrer Familie und mit ihren Freunden aus dem Bergbaudorf spendeten ihr ein wenig Trost.
In einem ruhigen Augenblick erzählte ihr Cet’iq, wie ihre und Nal’ihs Reise nach Teram verlief. Unterwegs schlossen sie sich für einige Tage einer weiteren Gruppe von Nohamatuaq an, die meiste Zeit blieben sie jedoch alleine. Ihr Plan ist aufgegangen und sie konnten weitestgehend ohne nennenswerte Schwierigkeiten im Dorf ihres Onkels ankommen. Bald hörten sie vom bevorstehenden Angriff einer Truppe der gegnerischen Soldaten. Sie konnten im letzten Moment mit ihrem Onkel und seiner Familie fliehen und haben das große Feuer aus weiter Ferne gesehen. Leider sind sie Tal’ok nicht begegnet.
Einige Tage vergingen. Sal’iq konnte sich erholen und viel Zeit mit ihrer Mutter und Schwester verbringen. Ihren Onkel und seine Familie lernte sie auch näher kennen. Sie verließen ihre Heimat mehrere Jahre vor Sal’iqs Geburt.
Ein gedrungener Mann mit wettergegerbten Gesichtszügen besuchte ihr Zeltlager. Seine grauen Haare verband er zu einem Pferdeschwanz, den er über seine schwarze Jacke aus schwerem Stoff trug. Sal’iq stellte er sich als Kapitän Gelan vor.
„Diesem Mann verdanken wir auch viel“, erläuterte Cet’iq, als sie sich ihnen näherte, „wir waren uns sicher, dass dein Vater und du ihn aufsuchen werdet, sobald ihr von dem Überfall erfahren würdet. Wir haben den Kapitän gebeten, im Hafen auf euch zu warten.“
„Ihr habt bestimmt erwartet, dass auch Tel’ok mit mir sein wird“, ergänzte Sal’iq traurig.
„Noch besteht die Hoffnung“, versuchte Cet’iq ihre Tochter aufzumuntern, „gestern erst kamen einige Nachzügler aus Teram. Vielleicht kommt Tel’ok ebenfalls in den nächsten Tagen.“ Cet’iq gab sich größte Mühe, zuversichtlich zu klingen, in ihrer Stimme schwang jedoch Sorge und Angst mit.
„Ich bin mir sicher, dass alles gut ausgehen wird“, sagte Kapitän Gelan, nachdem er aufmerksam zugehört hatte, „die Geschichten, die ich über deinen Vater erfahren habe, bestärken meinen Eindruck, dass er ein weiser und willensstarker Mann ist, der schon Schlimmeres gemeistert hat“, munterte er Sal’iq auf.
„Wo sind bloß unsere Manieren“, erinnerte Cet’iq, „kommen Sie, Herr Kapitän, die anderen warten schon auf uns im Versammlungszelt.“
Im Zelt köchelte der Eintopf in einem großen Topf, ein kahlköpfiger Mann passte auf, dass die Speise nicht anbrannte. Der Rauch entweichte durch eine Öffnung in der Zeltdecke über der Feuerstelle. Mehrere Kerzen waren im Zelt verteilt und erzeugten flackernde Schatten. Draußen setzte ein leichter Regen ein, der trommelnd gegen die Außenwand der einfachen Behausung prasselte. Sal’iqs Familienmitglieder, Belot, Hedol, Rul’ot und einige andere Nohamatuaq saßen bereits am Feuer, als sie sich hinzusetzen.
„Ich besuche euch heute, weil ich euch einen Vorschlag machen möchte“, eröffnete Kapitän Gelan, „leider kann ich mit meiner Mannschaft nicht mehr lange im Hafen von Dilmuth bleiben. Wir haben verderbliche Waren an Bord, die wir bald verkaufen sollten. Außerdem kommt bald die Periode der Orkane, die das Segeln sehr schwierig, wenn nicht sogar unmöglich macht.“
„Das verstehen wir sehr gut“, pflichtete Rul’ot ihm bei, „wir sind euch sehr dankbar, dass ihr so lange mit der Abreise gewartet habt.“
„Das haben wir gerne gemacht“, erwiderte Gelan, „wir werden in wenigen Tagen unsere Anker lichten. Leider können wir nicht alle Nohamatuaq von Dilmuth mitnehmen, wir können euch aber anbieten, Familien mit kleineren Kindern mitzunehmen. In Soarakk, auf der anderen Seite des großen Sees Arokk, haben sich einige eurer Stammesgenossen niedergelassen. Sie würden euch bestimmt herzlich aufnehmen“, erklärte ihnen der Mann aus Elosien seinen Plan.
„Dann würden wir uns noch mehr von unserer Heimat entfernen“, stellte Sal’iq traurig fest, „und die Hoffnung, meinen Vater zu finden, wäre noch geringer.“
„Ja, das stimmt“, pflichtete ihr Gelan leise bei, „Dafür würdet ihr euch dort in Sicherheit befinden. Auch Dilmuth wird vermutlich nicht ewig von der aktuellen aggressiven Expansionspolitik seiner Nachbarprovinzen verschont bleiben.“
„Ihr könnt natürlich auch bei uns im Dorf wohnen“, bot Hedol an, während Rul’ot für die anderen Nohamatuaq übersetzte, „leider können wir euch auch keinen Frieden versprechen. Da der Krieg auch die Provinz Rutesi ergriff, ist auch unser Land nicht mehr sicher.“
„In Soarakk erwartet euch voraussichtlich auch ein hartes Leben und nicht alle werden euch wohlgesonnen sein“, fügte der Kapitän hinzu, „dafür bin ich mir sicher, dass ihr dort in Frieden leben könnt.“
„Klar ist nur, dass wir nicht lange in Dilmuth bleiben können“, stellte Sal’iqs Mutter mit ernster Miene fest, „hier können wir nicht lange bleiben, weil wir nur für eine bestimmte Zeit geduldet werden. Wir sollten sehr bald eine Entscheidung treffen.“
Ende in der nächsten Fortsetzung
Titelfoto: "Gespräche am Feuer", Fotorechte: Dario schrittWeise
Lieber Dario,
danke für diese schöne Geschichte. Besonders interessant finde ich die Illustration die du so stimmig mit dem Text abgestimmt hast.
LG, Sophie Mai
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Hallo Sophie, es freut mich, dass dir meine Kurzgeschichte und das Foto gefallen. Dankeschön 🙂 Einen schönen Abend und liebe Grüße, Dario
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