Neulich musste ich wieder an einer dieser langweiligen Konferenzen teilnehmen, die sich teilweise über mehrere Tage hinziehen. Ich musste sogar einen Programmpunkt übernehmen. Die Kollegen sprachen dauernd nur über die Arbeit, auch nach dem Feierabend. Nicht einmal gutes Essen gab es dort.
Nach meinem Vortrag beschloss ich kurz aus dem Konferenzsaal zu gehen und etwas frische Luft zu holen.
„Hallo Herr Redner“, hörte ich plötzlich eine Frauenstimme sagen, „versuchen Sie auch, sich unauffällig zu entfernen?“
„Erwischt!“, erwiderte ich lächelnd und drehte mich um. Auf einer Bank im Eingangsbereich des Gebäudes saß eine junge Frau mit langen dunkelblond-bräunlichen Haaren, deren Spitzen leicht abstanden. So stellte ich mir eine erwachsene Version von Ronja Räubertochter vor. Sie lächelte mich strahlend an.
„Und was machen Sie hier, wenn ich fragen darf?“ versuchte ich zu kontern, „Sollten Sie nicht zum nächsten Vortrag gehen?“ Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht.
„Ach, wer braucht schon dieses langweilige Geschwätz?“, sie verdrehte spielerisch die Augen.
„Ja, da werden Sie Recht haben“, pflichtete ich ihr bei.
„Was halten sie davon, diesen trostlosen Ort zu verlassen und die Stadt zu erkunden?“, schlug sie verschmitzt vor.
„Eine wunderbare Idee, da mache ich gerne mit.“
Wir verließen frohgelaunt das Konferenzgelände. Da es erst gegen 13:00 Uhr war, standen noch einige Vorträge an und ich freute mich, sie verpassen zu dürfen.
„Worauf hätten Sie Lust?“, wollte sie wissen.
„Hm, gestern habe ich in der Nähe einen großen Park gesehen“, erinnerte ich mich, „dann können wir später schnell zur Konferenz zurückkehren.“
„Wer hat gesagt, dass wir wieder hingehen wollen?“, sie lachte.
„Dann lassen Sie uns gleich hingehen.“
„Ach, wir können uns doch duzen“, empfahl sie, während wir weiterliefen.
„Gerne. Ich heiße Moritz und Sie? Ähm, ich meine, wie heißt du?“
„Moritz – ein schöner Name. Mein Name ist Zora.“
„Zora. Der Name klingt sehr poetisch. Was bedeuter er?“
„Danke. Vielleicht verrate ich es dir später“, vertröstete sie mich geheimnisvoll schmunzelnd, „ich höre Musik, komm‘ mit.“
Wir liefen zum Park, in welchem ein Chor sang, begleitet von einem Gitarristen und einer Flötenspielerin.
„Die Musik gefällt mir. Wollen wir uns unter die Sänger mischen?“, fragte sie mich.
„Ich weiß nicht, ich habe schon lange nicht mehr öffentlich gesungen“,
zweifelte ich, „außerdem, werden wir sie nicht stören?“
„Das macht doch nichts“, munterte sie mich auf, „sie haben bestimmt nichts dagegen und es wird bestimmt lustig.“
Zora und ich stellten uns zu den anderen Sängern und bekamen von ihnen sogar ein Liederheft. Sie freuten sich sogar, dass jemand mitmachen wollte. Wir sangen einige berühmte Rockballaden und Poplieder mit. Teilweise klang unser Gesang etwas schief, weil wir keine eingespielte Gruppe waren, wir waren glücklich, dass wir spontan mitsingen dürften.
Nachdem sich der Chor aufgelöst hatte, gingen Zora und ich weiter durch die Parkanlage. Wir unterhielten uns eine Weile und beobachteten das rege Treiben um uns. Für einen Nachmittag hielten sich viele Menschen im Park auf. Neben einer kleinen Holzbrücke sahen wir einen Straßenmaler, welcher die interessierten Passanten auf seinem Zeichenpapier verewigte.
„Ich hätte Lust selber zu zeichnen“, dachte Zora laut nach, „wie findest du die Idee, Moritz?“
„Meinst du, der Straßenmaler wird uns erlauben, seine Zeichenutensilien zu benutzen?“, fragte ich überrascht.
„Versuchen wir es“, sagte sie optimistisch, „was kann schon passieren? Hast du Angst, dich zu blamieren?“ Sie lachte.
Zora beschrieb dem Maler unseren Wunsch. Dieser blickte zunächst skeptisch, erlaubte uns schließlich, sein Zeichenmaterial zu verwenden.
„Du zuerst!“ forderte sie mich auf, „du malst mich, Moritz.“ Obwohl sie dabei allerlei Grimassen zog, sah sie zu jeder Zeit sehr hübsch aus. Ich gab mir die größte Mühe, sie so akkurat wie möglich auf dem Papier festzuhalten. Als ich fertig war, schaute sie mein Werk prüfend an.
„Ich muss sagen, Herr Redner, das gefällt mir“, sagte sie anerkennend, „sehr realistisch. Jetzt bin ich an der Reihe.“
Sie zeichnete mich und hielt dabei von Zeit zu Zeit ihren Stift in die Höhe und schloss ihr linkes Auge, wie eine erfahrene Künstlerin, die auf diese Weise die Maße und Entfernung berechnen möchte. Der Straßenmaler beobachtete uns die ganze Zeit schmunzelnd aus einer sicheren Distanz. Zora bat ihn um Pinsel und Farben.
„Jetzt bin ich gespannt“, sagte ich, als sie ihren Pinsel abgelegt hatte, „zeig mir dein Kunstwerk“.
„Was denkst du?“
Sie malte mich sehr abstrakt. Auf dem Bild war eine regelrechte Farbexplosion zu sehen. Die Gesten, die sie beim Malen verwendete, waren nur als Scherz gedacht, weil sie die Zeichnung sehr frei umsetzte. Mein Gesicht konnte ich nur erahnen. Mir gefiel ihre Malerei, sie drückte darin ihre Empfindungen aus. Ich erkannte darin Freude sowie Lebenslust.
„Das soll ich sein?“, scherzte ich, um sie zu necken.
„Das Bild ist ein Blick in mein Inneres“, erwiderte sie verschmitzt.
„Wir nehmen die Bilder mit“, beschloss ich, „was sind wir ihnen schuldig?“, wollte ich vom Maler wissen, der uns weiter belustigt beobachtete.
„Schuldig? Ihr seid mir nichts schuldig“, gab er zu verstehen, „die Bilder habt ihr doch selber gemalt.“ Er gab sie uns, nachdem er sie zu zwei Zylindern zusammenfaltete. Wir bedankten und verabschiedeten uns vom freundlichen Mann.
Die Sonne ging bereits langsam unter, die Straßenbeleuchtung der Großstadt ging an. Zora beobachtete den Abendhimmel.
„Wie findest du diese Wolke? Ähnelt sie nicht einem Maharadscha, der auf einem Elephanten reitet?“, Zora wollte meine Meinung erfahren, indem sie auf eine der Wolken zeigte.
„Du hast wirklich eine blühende Fantasie. Aber, wenn du mich so fragst, sieht die Wolke für mich eher nach einem Haus mit einer Garage aus.“
„Du bist mir ein Haus“, prustete sie los.
„Sieh‘ doch, da ist ein Schornstein…“ versuchte ich zu erklären.
„Ich ziehe dich nur auf, jeder erkennt darin etwas Anderes. Alles andere wäre doch langweilig. Aber sag‘ Mal, mein Magen knurrt“, stellte sie fest.
Zora und ich suchten ein Restaurant in der Nähe des Parks auf, weil wir beide Hunger verspürten. Wir setzten uns auf die große Terrasse des Restaurants, weil der Abend noch sehr mild war. Während der Kellner unsere Bestellungen entgegennahm, bereiteten sich ein Pianospieler und ein Sänger für ihren abendlichen Auftritt auf der breiten Terrasse vor. Einige Minuten nachdem der Kellner unser Essen und die Getränke gebracht hatte, begannen die beiden Künstler ihr Musikprogramm. Sie verliehen dem Abend einen besonderen Zauber. Zora lauschte vergnügt und wippte mit dem rechten Fuß im Takt. Sie betrachtete mich sehnsuchtsvoll. Ich konnte ihre Gedanken in dem Moment leicht erraten:
„Möchtest du mit mir tanzen?“
„Klar, sehr gerne, ich dachte, du fragst nie“, antwortete sie.
Wir gingen auf die Tanzfläche, auf welcher bereits drei andere Paare tanzten.
„Ich muss dich vorwarnen, ich bin kein sehr guter Tänzer“, gab ich zu bedanken.
„Ach, tanzen wir einfach, so schlimm kann es gar nicht sein“, sie zwinkerte mir zu.
Wir tauchten in die musikalische Sphäre ein, welche die beiden Musiker an jenem Abend entfalteten. In dem Moment vergaß ich alles um mich herum. Nur meine Tanzpartnerin und die Musik waren von Bedeutung. Wobei auch die Musik in dem Augenblick eher zweitrangig war. Wir tanzten, drehten uns, lachten, schauten uns tief in die Augen. Ich genoß jede Sekunde und freute mich, diese wundervolle Frau kennengelernt zu haben.
Beim Tanzen verlor ich jedes Zeitgefühl, wir gehörten plötzlich zu den letzten Gästen im Lokal. Ich bestand darauf, die Bezahlung zu übernehmen, obwohl Zora sich zunächst weigerte. Nächstes Mal sei sie dran, versicherte sie mir gespielt tadelnd. Ich freute mich zu hören, dass es ein nächstes Mal geben wird. Unseren Spaziergang setzten wir am Ufer des Flusses fort, der sich durch die Stadt schlängelt. Das Wasser reflektierte die Straßenbeleuchtung und die Sterne. Wir unterhielten uns noch einige Zeit über Gott und die Welt.
Der Abend schritt voran, es war wohl lange nach Mitternacht, als wir in das Viertel zurückkehrten, in dem sich unsere Hotels befanden. Es wurde immer später und später, ich erinnere mich nur noch daran, dass wir noch in eine Bar gingen. Irgendwann muss ich wohl eingeschlafen sein, der Tag war sehr lang für mich. Ich fiel in einen tiefen Schlaf und hatte im Traum den Eindruck, einen Kuss auf meinen Lippen zu spüren.
Mich weckten erst die frühen Morgenstrahlen, die sich zaghaft durch das Fenster in die Hotelbar wagten. Ich drehte mich verschlafen im bequemen Sessel um, konnte Zora aber nirgendwo entdecken.
Ich war ein wenig enttäuscht, weil ich nicht sicher war, ob alles nur ein Traum war. Zudem wusste ich nicht, wie ich Zora wiedersehen kann. Im gleichen Augenblick, als ich aufstehen wollte, entdeckte ich auf dem Tisch eine Serviette, auf der jemand etwas mit einer verschörkelten Schrift notiert hatte:
Lieber Moritz,
danke dir für den wunderbaren Tag. Hoffentlich hast du gut geschlafen. Wenn du dich fragst, warum du alleine in der Hotelbar aufgewacht bist – das liegt daran, dass ich dich vor dem Abschied noch auf ein Gute-Nacht-Getränk eingeladen habe. Du bist eingenickt und ich wollte dich nicht wecken. Ich habe die Zeit mit dir genossen. Keine Sorge, es wird bestimmt nicht unser letzter gemeinsamer Tag sein.
Bis bald und noch viel Spaß auf der Konferenz, aber arbeite nicht zu viel,
deine ZoraP.S.
Du hast mich gefragt, was „Zora“ bedeutet. Übersetzt heißt mein Name „die Morgenröte“.
„Die Morgenröte“, dachte ich, „ein schöner Name“, als die Sonne über der Stadt aufging. Ich fühlte mich beschwingt und ging mit mehr Energie zur nächsten Veranstaltung der Konferenz. Der Tag, den ich mit Zora verbrachte, gab mir einen neuen Motivationsimpuls für die kommenden Stunden. Ich freute mich schon auf unser nächstes Treffen.
Für „Z“.
Genieße den Tag.
Titelfoto: „Nachtlichter einer Großstadt“ von Dario schrittWeise
Das probiere ich bei meinem nächsten Meeting auch aus! Ich hoffe, dass es dann auch funktioniert ; )
Schöne Geschichte!
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Ja, das würde mich auch interessieren 😉 Du kannst danach gerne erzählen, wie es war 😉 Liebe Grüße aus Spanien, Dario 🙂
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Es gibt Momente und Menschen, die wir ohne einen sichtbaren Grund begegnen. Sie sind einfach da. Sie strahlen eine enorme Freude und Lebensenergie in unsere Welt hinein. Was für eine Bereicherung, im richtigen Augenblick dabei sein zu dürfen.
Danke dir Dario für diese wunderschöne Geschichte.
LG, Sophie Mai
P.S.
Ich hoffe, dass dein Pilgerweg weiterhin nach Plan verläuft.
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Hallo Sophie, ja, solche Momente gibt es auch 😉 Ich komme gut voran, morgen bin ich voraussichtlich in Pamplona. Liebe Grüße, Dario 🙂
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Oh wie schön!
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Danke dir 🙂 LG, Dario
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klasse. 🙂
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Dankeschön, Poetin 🙂
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Guten Morgen Dario.
Schon fast zu schön um wahr zu sein.
LG, Nati
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Hallo Nati, wer weiß? 😉 Liebe Grüße aus Roncesvalles, Dario 🙂
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Da bist du schon eine ordentliche Strecke gelaufen Dario.
Sonnige Grüße zu dir zurück. ☀️🍀
Nati
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wie schön! 🙂
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Vielen herzlichen Dank 🙂 Herbstliche Grüße, Dario
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