Eine unwahrscheinliche Reise

Bis zu jenem Tag, an dem er den Brief einer ehemaligen Arbeitskollegin erhalten hatte, verlief das Rentnerdasein von Harold Frey eintönig und ein wenig trist. Längst schliefen er und seine Ehefrau Maureen in getrennten Schlafzimmern. Ihr Sohn redete kaum noch mit ihnen, seitdem er das Haus verlassen hatte. Ursprünglich wollte Harold nur einen Brief abschicken, doch dann lief er immer weiter. Niemand konnte ahnen, dass ein einfacher Gang zum Briefkasten so viel verändern würde.

So beginnt der Roman „Die unwahrscheinliche Pilgerreise des Harold Frey“ der in London geborenen Schriftstellerin Rachel Joyce. Was anfangs tatsächlich wie eine unwahrscheinliche Reise erscheint, offenbart im Laufe der einfühlsam erzählten Handlung die wahren und bewegenden Gründe für seine Entscheidung.

Eine Stelle fiel mir besonders auf. Darin beschreibt der Erzähler die Frühlingslandschaft, durch welche der Protagonist wandert: „Der Mai war noch nie so schön gewesen. Tag für Tag strahlte wolkenloser Himmel in einem Blau ohnegleichen. Und schon quollen die Gärten über von Lupinen, Rosen, Rittersporn, Gleisblatt und dem limettengrünen Gewölk des Frauenmantels. Insekten zirpten, schwebten, summten, schwirrten. Harald ging an Wiesen voller Butterblumen, Mohn, Margeriten, Klee, Wicken und Leimkraut vorbei„. (Joyce, S. 245)

Zunächst wirkt das Zitat wie eine beliebige Schilderung der Umgebung und der Jahreszeit, um die Handlung darin einzubetten. Doch bald wird klar, dass die beschriebene Landschaft das Innenleben von Harald Frey widerspiegelt. Wie es sich später herausstellte, war jener Tag wichtig für den Fortgang seiner Reise.

Die poetischen Zeilen beschreiben das Aufblühen von Haralds Gefühlen. Viele längst vergessen geglaubten und verdrängten Erinnerungen kehrten zurück. Die Eisschicht, welche die Emotionen des Ehepaares unter Verschluss hielt, schmolz zusehends.

Den Roman „Die unwahrscheinliche Pilgerreise des Harold Frey“ von Rachel Joyce las ich mit großem Genuss. Die britische Autorin schickt den Leser auf eine besondere Reise. Der Leser fiebert, freut sich und leidet gleichermaßen mit den Hauptcharakteren mit. Für mich war es keine unwahrscheinliche, sondern eine wunderbare Lesereise, die ich jedem wärmstens ans Herz legen kann.

Und das Zitat ist mein Gedanke des Monats Mai, den ihr wie jeden Monat im unteren Bereich meines Blogs finden könnt. Die bisherigen Gedanken fasste ich auf dieser Seite zusammen.

Quellen

Titelfoto: Eine bunte Wiese, Fotorechte: Dario schrittWeise
Joyce, Rachel: "Die unwahrscheinliche Pilgerreise des Harold Frey", Frankfurt am Main, 2014, Zitat: S. 245

10 Antworten auf „Eine unwahrscheinliche Reise

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  1. Lieber Dario,
    danke für deinen poetischen Kommentar und zum Lesen verlockende Empfehlung. Harold Frys Reise ist wie auch das Leben, voller Überraschungen. Nur die Natur bleibt uveränderlich beständig und durch ihre Pracht erweckt sie die Begeisterung und die
    Lebendigkeit der Menschen.
    LG und bleibe weiterhin ansteckend mit dem Optimismus und der Lebensfreude, Sophie Mai

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