Die geschenkte Zeit

An jenem denkwürdigen Tag wachte Isidor sehr spät auf. Verschlafen blickte er auf seinen Wecker auf dem Nachttisch neben dem Bett. Der kleine Zeiger des Weckers erreichte schon 10 Uhr.

„Ich habe verschlafen!“ stellte er erschrocken fest.

Isidor stand auf und rannte ins Bad, um sich frisch zu machen. Nach einer schnellen Dusche putzte er sich die Zähne, zog sich an und nahm seine Aktentasche.
„Schon 10:23 Uhr – ich muss schnell zum Auto“, dachte er.

Die Müdigkeit war wie verflogen, jetzt dachte der Verspätete nur noch daran, so schnell wie möglich zu seinem Arbeitsplatz zu kommen. Er rannte zum Wagen, den er in der Nähe geparkt hatte, öffnete die Tür und setzte sich auf den Fahrersitz. Doch als er versuchte, den Motor zu starten, stotterte dieser nur.
„Lass mich jetzt bitte nicht im Stich!“ fluchte er, doch sein sonst so zuverlässiges Gefährt hustete nur noch.
„Dann muss ich wohl mit dem Fahrrad in die Arbeit fahren“, beschloss er.

Isidor ging hinunter in den Keller. Er öffnete die Tür seines Kellerabteils, wo sein altes Fahrrad vernachlässigt in einer schummrigen Ecke an einem Bücherregal lehnte. Gerade als er das Fahrradschloss öffnen wollte, merkte er, dass die Fahrradkette merkwürdig hinunterhing.

„Stimmt, da war etwas“, erinnerte er sich, „ich wollte ja meine Fahrradkette nach der letzten Tour reparieren. Doch dafür bleibt jetzt leider keine Zeit. Dann eben der Bus“, dachte er.

Isidor ging zur nächsten Buchhaltestelle, die zwei Häuserblocks entfernt war. Er wartete fünf Minuten, er wartete zehn Minuten, nach fünfzehn Minuten verlor er die Geduld.

„Was ist denn heute los? Nicht einmal auf den Bus ist Verlass“, ärgerte er sich innerlich. Ohne auf den Fahrplan zu achten verließ er entnervt die Haltestelle.

„Wie es aussieht muss ich zu Fuß in die Arbeit gehen“, überlegte er, „ich wollte mich ohnehin wieder mehr bewegen.“

Es regnete leicht, als er über die Straße ging. Der Asphalt glänzte. In kleinen Unebenheiten sammelten sich Pfützen, in welchen die Regentropfen kleine Kreise bildeten. Er überlegte, wie es wohl sein würde, wenn er endlich ankommen wird. Die erste Besprechung des Tages hatte er gerade verpasst. Die Kollegen tranken soeben ihren zweiten Kaffee. Sie werden bestimmt den Kopf schütteln, wenn er keuchend und schwitzend zur Tür hereinkommen wird. Die zweite Besprechung ist wohl ebenfalls in Gefahr.

Isidor schätzte die Entfernung zum Bürogebäude ab, in dem er als Buchhalter arbeitete. Er musste noch ungefähr 20 Minuten laufen. Leider hatte er im Durcheinander nach dem Aufstehen sowohl sein Mobiltelefon als auch seine Armbanduhr zu Hause vergessen. Er fragte in einer Bäckerei nach der Uhrzeit.

„Es ist 10:45 Uhr“, antwortete die Verkäuferin hinter der Theke, in welcher viele verschiedenen Gebäckstücke und Brotsorten ausgestellt waren, „haben Sie es sehr eilig?“
„Ja, ich muss dringend zur Arbeit.“

„Ja, ja, die schwer arbeitende Bevölkerung hat es nicht einfach. Vor allem, wenn man wie wir jeden Tag arbeiten muss“, säufzte sie verständnisvoll.

„Mhm“, erwiderte der verspätete Buchhalter gedankenverloren, „danke, ich muss dann weiter.“

„Einen schönen Sonntag“, rief die Verkäuferin ihm gut gelaunt hinterher.

„Einen entspannten Tag“, antwortete er, wunderte sich jedoch, warum die Frau das gesagt hatte.

„Heute ist mit Sicherheit ein gewöhnlicher Werktag. Ist sie nun komplett durcheinander?“ grübelte der Büroangestellte, „ich arbeite von Montag bis Freitag und manchmal auch samstags. Doch heute kann kein Sonntag sein.“

Isidor ging zielstrebig weiter, nahm aber ab dem Zeitpunkt seine Umgebung bewusster wahr. Er stellte fest, dass weniger Menschen unterwegs waren, als er es von einem normalen Arbeitstag gewohnt war. Auch der Straßenverkehr war für gewöhnlich viel dichter.

Er beschloss noch jemanden nach dem heutigen Tag zu fragen. Ein älterer Herr im karierten Anzug kam ihm mit einem aufgespannten Regenschirm entgegen.

„Guten Tag, entschuldigen Sie die Störung. Können Sie mir bitte sagen, welchen Wochentag wir heute haben?“ wollte Isidor von ihm wissen.

„Heute ist ein Sonntag, guter Mann“, antwortete der Gefragte verdutzt. Diese Frage wurde ihm offensichtlich sehr selten gestellt.

Isodor lachte schallend. Sein Gegenüber schien noch verwirrter zu sein.

„Habe ich etwas Witziges erzählt?“ wollte er verwundert wissen.

„Nein, ganz und gar nicht“, beruhigte ihn der Glückliche, „sie haben mir den Tag gerettet.“

„Ich verstehe zwar nicht ganz warum, aber es freut mich, dass ich ihnen helfen konnte“, sagte der Mann heiter und verabschiedete sich von ihm.

Isidor kaufte sich in einer Eisdiele ein Eis mit zwei Kugeln seiner Lieblingssorte. Der Regen hörte in der Zwischenzeit auf. Hinter den grauen Wolken trat schüchtern die Sonne hervor. Isidor ging mit dem Eis fröhlich in einen Park, in welchem er sich auf eine Bank setzte. Seine Aktentasche legte er neben sich. In seiner Nähe führte eine Ente ihre unkoordiniert watschelnden Kücken zum Teich. Er lehnte sich zurück, genoss seine Eiskugeln und freute sich über die geschenkte Zeit.

6 Kommentare zu „Die geschenkte Zeit

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  1. 😊oha, das kenne ich. Das aufschrecken, verschlafen zu haben, das krampfhafte Bemühen die Gedanken zu sortieren, krampfgaft in den Hirnwindungen suchen nach: welcher Wochentag ist heute?! das Adrenalin , welches durch den Körper schießt, das Herz auf Hochtouren schlagen lässt und dann die Erleichterung, dass ich heute FREI/WOCHENENDE habe…. bzw noch mitten in der NACHT ist oder ich ausnahmsweise mal ein Mittagsschläfchen gemacht habe und mein Hirn das unter Nachtschlaf abgespeichert hat……

    hab einen ruhigen und entspannten Sonnta und genieße die Zeit 🌻

    Gefällt 1 Person

    1. Hallo smilane, ich vermute, so ähnlich müsste sich auch die Hauptfigur dieser Kurzgeschichte gefühlt haben. Danke dir, ich wünsche dir ebenfalls einen angenehmen Tag 🙂 Verregnete Grüße, Dario 🙂

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