Der gute Rat [2/4]

Im ersten Teil der Parabel „Der gute Rat“ hörte Mattis von einem weisen Mann, der Fragen zu fast allen Lebenslagen beantworten kann. Fasziniert von der Geschichte dieses Mannes, fuhr Mattis nach einem Gespräch mit seiner Familie zu ihm, weil er sich dadurch erhoffte, einen Impuls für sein Leben zu bekommen. Weil der Einsiedler auf einer Seeinsel in einem entlegenen Tal lebte, musste Mattis mehrere Fußstunden zurücklegen.

Der gute Rat – Teil 2

Vor der Abreise bat Mattis seinen Arbeitskollegen Ben, den Weg auf einer Landkarte der Region zu skizzieren. Mattis holte die Karte aus dem Rucksack und folgte der Wegbeschreibung. Von der staubigen Straße stieg der schmale Pfad den kleinen Berg hinauf durch einen dichten Mischwald. Nach drei Stunden näherte sich die Sonne dem Horizont.
„Besser, ich suche mir einen Platz zum Schlafen, bevor es dunkel wird“, beschloss er. „Da, eine kleine Wiese unter einer Fichte!“ dachte er, „Hier werde ich mein Nachtlager aufschlagen. Morgen werde ich weitersehen.“
Mattis legte sein Gepäck auf den Boden und holte sein Ein-Mann-Zelt aus dem Rucksack. Es dauerte eine Weile, bis er sein Zelt korrekt aufgestellt hatte. Er hatte für seinen Ausflug eines dieser modernen Zelte gekauft, die einfacher aufgebaut werden können, als die klassischen Modelle, wie ihm der Verkäufer versichert hatte. Seine Ehefrau hatte noch gescherzt, damit wird es sogar ihm gelingen, alleine zu campen.
Mattis aß sein Proviant zu Abend und trank einen warmen Tee aus der Thermoskanne. Als die Dunkelheit einsetzte, schlüpfte er in seinen Schlafsack hinein. Die nächtlichen Waldklänge hörten sich für ihn sehr intensiv an. Fast jedes Geräusch klang so, als ob es in unmittelbarer Nähe entstanden ist, sogar in seinem Zelt. Trotzdem schlief er schnell ein. Am nächsten Morgen wachte er erholt auf.
Sein mitgebrachtes Essen reichte noch für einen Tag. Der Tee in der Thermoskanne war noch lauwarm. Mattis wollte keine Zeit verlieren und baute gleich nach dem Frühstück sein Zelt ab, um bald aufbrechen zu können.
Vor ihm breitete sich dichter Morgennebel aus, weswegen er genau auf den schmalen Pfad vor ihm achten musste. An mehreren Wegkreuzungen sah er in der Karte mit der Skizze seines Arbeitskollegen nach, wo es weitergeht. Mattis hielt sie die ganze Zeit in der Hand, um sich daran orientieren zu können. Immer wieder sah er auf beiden Seiten kleine Kegel, die aus aufeinander geschichteten Steinen bestanden. Der Anstieg wurde immer steiler. Seine tägliche Büroarbeit und fehlende sportliche Betätigung ließen ihn stark schwitzen und schnaufen. „Das schaffst du schon“, motivierte er sich, „nur noch wenige Kilometer.“
Der Aufstieg dauerte einige Stunden. Gegen Mittag erreichte Mattis eine Anhöhe, hinter welcher er den grünlich schimmernden Bergsee sah. Auch die kleine Insel mit einer Holzhütte konnte er von seinem erhöhten Aussichtspunkt erkennen.
Ein Trampelpfad führte zum See. Langsam stieg er hinunter. Mattis beobachtete die Umgebung und überlegte, wie er auf die Insel übersetzen könnte.
Mattis rief mehrmals nach dem Mann. Keine Reaktion. Die Hütte schien leer zu sein.
„Warum machst du solchen Lärm?“, fragte plötzlich jemand hinter ihm, Mattis erschrak.
„Du verscheuchst alle Tiere aus dem Tal und vor allem alle Fische im See.“
Vor ihm stand ein Mann, der mit seinen kniehohen Gummistiefeln, einem grauen Pullover, schwarzem Schnurrbart und einem schmalen Gesicht eher einem Angler als einem Philosophen ähnelte.
„Bist du der weise Einsiedler, der auf dieser Insel lebt?“, fragte ihn Mattis gespannt, auf die gegenüberliegende Uferseite deutend.
„Das ist eine sehr hochtrabende Bezeichnung“, sagte der Angesprochene amüsiert, „ich lebe wohl wie ein Einsiedler, aber bin ich deswegen gleich weise?“, sagte er und zwinkerte ihm zu.
„Nenn‘ mich einfach Arman“, stellte er sich vor und reichte ihm die Hand.
„Sehr erfreut, und ich heiße Mattis“, erwiderte er die Begrüßungsgeste.
„Ben, mein Arbeitskollege, hat mir von dir erzählt. Er sagte, du hättest ihm die Augen geöffnet.“
„Hmm“, grübelte der als Angler gekleidete Mann, „ich glaube mich an deinen Kollegen zu erinnern. Er ist vor einiger Zeit hier gewesen und hat leicht wirres Zeug geredet. Aber in Grunde scheint er ein guter Kerl zu sein. Ben wollte Antworten von mir haben, die ich ihm nicht geben konnte. Warum bist du denn zu mir gekommen? Soll ich dir auch den Sinn des Lebens verraten?“ Arman lachte, was seinen Schnurrbart zittern ließ.
Mattis hielt weiterhin seine, mittlerweile zerknüllte, Landkarte in der Hand, als ob sie ihm auch in dieser Situation helfen, ihm Halt geben könnte.
„Nein, das nicht, aber ich wüsste gerne, wie ich mehr aus meinem Leben machen kann. Wie kann ich aus meinem Alltagstrott ausbrechen, um etwas völlig anderes anzufangen?“
Arman lächelte. „Wie ich es vermutet hatte. Auch du erwartest etwas von mir, dass ich dir nicht geben kann.“
„Kannst du mir nicht zumindest einen kleinen Hinweis geben?“
„Tut mir leid, ich muss dich leider enttäuschen. Dein Kollege hat dich Sachen über mich erzählt, die ich nicht bestätigen kann. Ich bin nur ein einfacher Mann, der nur seine Ruhe haben will. Hin und wieder kommen Menschen zu mir, die einen Rat von mir haben wollen. Ich unterhalte mich zwar mit ihnen, aber nicht, weil ich ein unglaublich weiser Mann bin, sondern aus reiner Freundlichkeit. Sie denken, ich muss sehr klug sein, weil ich hier draußen lebe, wie in einem Roman. Vielleicht habe ich dem einen oder dem anderen helfen können, das war aber eher ein Zufall, eine Überlegung anhand des gesunden Menschenverstands. Nichts, was du nicht auch vollbracht hättest. Alles andere sind Märchen“, Arman hob bedauernd Schultern und Arme.
„Ja, du hast vermutlich recht“ erwiderte Mattis niedergeschlagen.
„Tut mir leid, dass du die lange Reise umsonst auf dich genommen hast, hoffentlich kannst du zumindest die Natur genießen“, stellte der Waldbewohner fest.
„Die Natur hier ist sehr beeindruckend, doch deswegen bin ich nicht hier. Aber danke dir für deine Ehrlichkeit.“
„Das verstehe ich. Gut, damit du zumindest nicht mit knurrendem Magen zurückgehen musst, werde ich uns einen Pilzeintopf zubereiten.“
„Sehr großzügig, Arman, tatsächlich hat mich der Aufstieg hungrig gemacht“, gab Mattis zu.
„Der leere Magen philosophiert nicht gerne. Und die Fische hast du uns ja vertrieben“, Arman lachte herzlich, Mattis konnte sich ein Lächeln ebenfalls nicht verkneifen.
Sie setzten sich an das Lagerfeuer vor der Hütte. Wenige Minuten später köchelte der Eintopf bereits. Mattis schmeckte das Essen des Einsiedlers. Sie unterhielten sich noch eine Weile, dann stand Mattis auf, um wieder zurückzugehen. Arman brachte ihn mit seinem Holzboot ans andere Ufer.
„Ich wünsche dir noch viel Glück mit deiner Suche nach Antworten.“
„Danke, auch für den leckeren Pilzeintopf. Lebe wohl“, sagte Mattis zum Abschied. Sie schüttelten sich die Hände.
Er folgte wieder dem Pfad, der ihn hierhergeführt hatte. Er war enttäuscht, dass ihm Arman nicht helfen konnte. So eine aufwendige Reise, ohne eine einzige Antwort bekommen zu haben. Nach mehreren Schritten wollte er sich auf seiner Karte vergewissern, dass er noch in die richtige Richtung lief, weil er sich an die Gegend nicht mehr erinnern konnte. Doch dann stellte er fest, dass er die Karte verloren hatte.

Fortsetzung folgt

Titelfoto: "Am Ufer eines Sees" (Fotorechte: Dario schrittWeise)

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