„Sogar durch das Holz der Tür erkenne ich ihre Stimme, diesen hab eingeschnappten Tonfall, der immer klingt, als hätte man ihr gerade einen Herzenswunsch abgeschlagen“. Mit diesem Satz beginnt der Debütroman „Adler und Engel“ von Juli Zeh, den ich aktuell lese.
Auf den ersten Blick erscheint der Anfang des Romans aussagekräftig, doch bald wird dem Leser klar, dass der Ich-Erzähler des Romans hier alle wichtigen Eckpfeiler der Handlung festlegt: die Hauptfigur und ein weibliches Gegenüber. Wir erfahren als Leser, dass dem Protagonisten diese andere Figur nicht gleichgültig ist, auch wenn mit der Bewertung „halb eingeschnappter Tonfall“ zunächst eine negative Bewertung in der Aussage mitschwingt. Der erste Satz wirkt wie ein Köder, das Interesse der Leser ist geweckt und sie möchten wissen, wer diese Figuren sind, wie sie zueinanderstehen und welche Geschichte sie miteinander verbindet.
Auf dem Titelfoto dieses Blogbeitrags ist Hermann Hesses „Der Steppenwolf“ zu sehen. Seinen berühmten Roman beginnt Hesse mit folgendem Satz: „Dieses Buch enthält die uns gebliebenen Aufzeichnungen jenes Mannes, welchen wir mit einem Ausdruck, den er selbst mehrmals gebrauchte, den „Steppenwolf“ nannten.“ Der tatsächlichen Geschichte wird ein fiktionales „Vorwort des Herausgebers“ vorangestellt. Es ist ein Spiel mit den Erwartungen der Leser, welches eine weitere Interpretationsebene aufbaut.
Romananfänge transportieren eine besondere Stimmung. Sie sollen uns, die Leser, in die Geschichte einführen, aber auch neugierig machen. Oft heißt es, im Anfang soll der Kern der Geschichte begründet sein. Manchmal sollen uns die Anfänge auch in die Irre führen, damit die Wendung noch überraschender ausfallen kann. Während die einen Anfänge langsam die Geschichte aufbauen, beginnen die anderen Romane mittendrin und plötzlich, womit sie an eine Kurzgeschichte erinnern.
Ich finde es sehr aufregend, einen neuen Roman anzufangen. Wenn ich die erste Seite aufschlage, frage ich mich stets, welche Geschichte mich jetzt erwarten wird. Meistens kenne ich die ungefähre Richtung des Romans, zumindest vom Genre her. Doch das erstmalige Aufschlagen der Seite mit dem ersten Satz ist für mich immer ein besonderer Moment.
Über den ersten Satz des Romans, den ich gerade lese, habe ich in der Einleitung dieses Textes geschrieben. Nun würde es mich interessieren, wie der erste Satz des Romans lautet, den ihr gerade lest. Wenn ihr Lust habt, könnt ihr diesen gerne in den Kommentaren schreiben. Beschreibt darin auch am besten, inwieweit dieser Satz die Fortsetzung der Geschichte ankündigt. Wie würdet ihr den Satz im Bezug zum Rest des Romans einordnen?
Quellen
Titelfoto: "Lesepause", Fotorechte: Dario schrittWeise
Hermann Hesse: Der Steppenwolf, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2001
Zeh, Juli: Adler und Engel, btb Verlag, München 2018
Unleugbar in diesem Buch ist einzig der Ort, an dem die Leiche lag: eine enge Gasse namens Abu-I-Rus, das Vielköpfige Ungeheuer. Die Vielkopfgasse.
Der erste Satz aus dem Buch „Das Halsband der Tauben“ von Raja Alem. Aus dem Arabischen übersetzt von Hartmut Fähndrich. Die Geschichte ist mit fast 600 Seiten nie langweilig und ich gratuliere dem Übersetzer zu so einer wunderbaren Sprache.
Das zu deiner Idee der Einleitungssätze. Ciao, Ernestus.
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Hallo Ernestus, ein sehr mysteriöser Anfang, herrlich blumig geschrieben. Ein Buch, in dem wohl vieles erfunden ist, eine Leiche und eine Gasse, die im Zusammenhang mit einem Ungeheuer steht. Danke dir für den Kommentar und liebe Grüße, Dario 🙂
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Nach deiner Antwort zu schließen, habe ich das Gefühl, dass dich der erste Satz dieses Romans in eine ganz andere Vorstellung des Inhalts gebracht hat. Also der erste Satz kann den Leser neugierig machen, sagt aber dann über den Inhalt so gut wie nichts. Ich glaube, das ist bei den meisten Romanen so. Die Erzählerin ist in diesem Fall diese Gasse in Mekka. Sie erzählt von den Menschen dort. Ich kann dir diesen Roman nur ans Herz legen. Ich habe das Buch antiquarisch gekauft. Es steht jetzt in meiner Bibliothek im obersten Regal !!! Grüße an dich und alle Leseratten. Ernestus
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Das ist auf jeden Fall eine interessante Wendung, also tatsächlich mysteriös, wie geschrieben 😉 Die ersten Sätze sind keine Zusammenfassungen des Romans, das sehr ich wie du, aber als völlig losgelöst vom Inhalt würde ich sie dann auch nicht bezeichnen. In deinem Fall wird die Gasse erwähnt, die im Roman eine sehr wichtige Rolle spielt, wie ich deiner Beschreibung entnehmen kann. Der Zusammenhang erschließt sich für mich beim Lesen einer Geschichte, manchmal erst am Ende. Dein Lesetipp hört sich auf jeden Fall sehr interessant an, ich werde mir den Roman merken. Liebe Grüße und noch einen schönen Abend, Dario 🙂
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Peregrine Roderick Clyde-Browns Ankunft auf dieser Erde wurde durch die Geburtsurkunde bescheinigt…
Das ist der erste Satz des Romans „Alles Quatsch“ von Tom Sharpe – eine sehr skurrile, teils irrwitzige Geschichte mit ironisch-ernsten Seitenhieben auf das System der Privatschulen in England. Ich habe dieses Buch vor etwa zwei Wochen beim Spazierengehen auf einer Parkbank liegen sehen, und angesichts drohend aufziehender Regenwolken beschlossen, es an mich zu nehmen. 😉
Liebe Grüße!
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Hallo Martha, der Roman fängt auch so skurril an, wie du ihn beschreibst. Es klingt wie die Geburt eines Beamtenkindes 😉 Witzig ist auch die Geschichte, wie du zu dem Buch gekommen bist. Danke und liebe Grüße, Dario 🙂🍀
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Lieber Dario, danke für die Einladung zum Mitmachen. Meine „Lesereise“ beginnt meistens schon beim Titel des Romans. Keineswegs erwarte ich auf diese Weise, das Geheimnis des Romans zu enträtseln. Vielmehr lasse ich mich von der interessanten Idee des Autors, der Autorin verzaubern. (Bis
heute war das immer wirksam.)
Hier ist der erste Satz des Romans, den ich gerade lese: „AN EINEM sonnigen Aprilmorgen komme ich mit dem Flugzeug in Catania an.“ Und schon bin ich mittendrin.
Roman: „Das Kind, das nicht fragte“ von Hans -Josef Ortheil.
Danke dir auch für die schönen Gedanken in der Welt der Fantasie.
LG, Sophie Mai
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Hallo Sophie, gerne 🙂 Der erste Satz von Ortheils Roman weckt Fernweh. Er hat darin alles wichtige zusammengefasst. Liebe Grüße, Dario
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„Die Fliege landet auf Jesu Haarlocke, dann wechselt sie unvermittelt auf das Hajduk-Poster, wo sie den Oberschenkel eines Spielers hinaufläuft, dessen Blick in die Zukunft gerichtet ist“.
Aus dem heute ausgelesenen, wunderbar unterhaltsamen Buch: „Der Berg“ von Ivica Prtenjaca. (Leider bin ich für alles Andere grad zu müde!)
Gruß von Sonja
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Hi Sonja, das ist ein spannender Einstieg. Mich würde es interessieren, wer diese Fliege beobachtet. Ist der Erzähler identisch mit einer Figur des Romans? Auf jeden Fall nimmt er sich viel Zeit für die Beobachtung der Umgebung und mit der Fliege lenkt er den „Blick“ der Leser auf bestimmte Details. Danke dir für den allerersten Satz 😉 Liebe Grüße, Dario
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Jawohl, der Erzähler ist identisch mit der Romanfigur. Der Roman lebt von seinen genauen Beobachtungen…
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Das habe ich vermutet. Der Satz macht auf jeden Fall neugierig auf den Rest der Geschichte 🙂
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