Mitternachtsschatten – Eine Vignette

Die Kurzgeschichte „Mitternachtsschatten“ habe ich als ein skizzenhaftes Stimmungsbild, eine literarische Vignette verfasst. Die fiktive Handlung spielt in einer nächtlichen Umgebung, kurz nach Mitternacht.

Mitternachtsschatten

Die alte Uhr schlug Mitternacht. Das schwere Pendel schwang geräuschvoll hin und her. Ich saß in meinem Sessel, die Schlaflosigkeit trieb mich umher.
Ich las ein Buch, in der Hoffnung, dass ich müde werden könnte. Meinen Blick ließ ich durch den Raum schweifen. An der Wand gegenüber hing das Gemälde, das ich letzten Sonntag auf dem Flohmarkt erstanden hatte. Darauf war das Porträt eines Mannes in seinen 50ern dargestellt. Er hatte einen Bart und kurze, braune Haare, die sich leicht gewellt hatten. Hinter ihm war eine Waldszenerie zu sehen. Er blickte grimmig drein.
Ich setzte meine Lektüre fort. Nach zehn Minuten legte ich das Buch zur Seite. Die Geschichte interessierte mich ohnehin nicht sonderlich.
Kurz darauf verließ ich das Haus, von der Schlaflosigkeit getrieben. Die Kälte der Nacht griff mit ihren durchdringenden Fingern nach Bergen, Wäldern, Flüssen und Städten. Sie drängte die Menschen in ihre Häuser zurück, wie ich dachte. Nur der Rauch, der aus den Schornsteinen entsteigt, und die beleuchteten Fenster deuteten auf reges Treiben der Bewohner hin.
Ich lief kurz am Ufer des Dorfweihers entlang. Nach wenigen Minuten bog ich in einen Nebenweg ab. Das Wasser war nicht mehr zu sehen.
Beißende Kälte umhüllte meine Glieder und mit jedem Schritt wurde ich endlich müder.
Die kahlen Bäume streckten ihre langen Finger über den Weg. Ein Steinkauz störte die nächtliche Stille.
Beinahe ohne es zu merken, verließ ich die Siedlung. Je weiter ich mich entfernte, desto stärker umwehte der Wind mein Gesicht.
Plötzlich umgaben mich wispernde Stimmen. Ich fragte mich, ob es sich um das Pfeifen des Windes zwischen den Bäumen und Felsritzen handelte. Das Rumoren wurde lauter. Ich fühlte mich beobachtet, ein irrationales Unwohlsein ergriff mich. Ich drehte mich um, wollte zurückkehren, erkannte aber den Weg nicht mehr wieder.
Als ich eine Kreuzung erreichte, schob sich eine dunkle Wolke vor den Mond. Das Wispern wurde lauter. In der Dunkelheit erahnte ich menschenähnliche Silhouetten. Waren im Gebüsch etwa glühende Augen zu sehen? Doch als ich zur Stelle kam, wo ich die Umrisse erwartet hatte, konnte ich niemanden sehen.
Ich kehrte um. Beschleunigte meine Schritte. Wem gehörten wohl die Schatten?
Die unheilvollen Stimmen erinnerten mich an meine Sorgen. Meine Gedanken kreisten nur um sie. Ich kämpfte gegen sie an, versuchte, die negativen Stimmen zu vertreiben.
„Du kannst das nicht!“
„Vergiss es!“ Äste versperrten mir den Weg.
„Es ist nicht machbar!“
Ich lief in die entgegengesetzte Richtung und ließ es über mich geschehen.
„Deine Bemühungen sind nicht ausreichend!“, ertönte es düster aus dem Wald.
Ich schloss die Augen und atmete tief durch.
„Genug!“, rief ich. „Ihr habt keine Macht über mich!“
Stille. Die dunklen Gedanken verschwanden.
Ich wartete. Keine Reaktion.
Wenige Minuten später setzte ich meinen Weg fort.
Auf der anderen Seite des Berges sah ich den Weiher im Mondlicht leuchten. Es war nicht mehr weit, ich sah die Lichter der Siedlung. Die Häuser und Fenster waren geschmückt in Farbe. Unheimlich fast fand ich den Rauch der Kaminfeuer.
Nach der Rückkehr von einem Spaziergang hielt ich meine Gedanken in einem Notizblock fest.
Ich sah auf die alte Uhr im Wohnzimmer: Mitternacht. Ist die Uhr beschädigt? Nein, der Minutenzeiger bewegte sich. Da hatte ich mich wohl vor dem nächtlichen Spaziergang vertan.
Ich blickte auf das Gemälde. Der Mann schien nicht mehr so grimmig zu sein. Seine Mundwinkel hatten sich sogar leicht nach oben verschoben. Das konnte doch gar nicht sein, dachte ich mir. Wieder eine Sinnestäuschung oder Einbildung. Ich hatte mir vermutlich das Gemälde nicht richtig angesehen.
Müdigkeit überfiel mich und ich musste gähnen. Ich machte das Licht aus und legte mich schlafen. Draußen sang der Steinkauz sein eigentümliches Lied.

Titelbild: Mitternachtsschatten, Fotorechte: Dario Schrittweise

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