Brauchen „digitale Ureinwohner“ analoge Bibliotheken?

Wer kennt das nicht? Am frühen Morgen werden wir von unserem Smartphone geweckt. Die ersten Kurzmitteilungen des Tages warten bereits auf unserem Bildschirm. Im Laufe des Tages prüfen wir die neuesten Nachrichten, die aktuelle Wetterlage oder lassen uns vom Navigationssystem in unserem Smartphone zum nächsten Zahnarzt leiten, weil wir Zahnschmerzen haben. Unsere Kontakte in Sozialen Medien lassen uns wissen, wo sie gestern ihre Rippchen gegessen haben. Ein Sitznachbar in der U-Bahn spielt angestrengt mit seinem Smartphone, der Klassiker „Tetris“ ist es wohl nicht. Im Park schauen Teenager auf ihrem kleinen Bildschirm die neueste Folge ihrer Lieblingsserie. Abends prüfen wir in der Fitness App die Anzahl unserer Schritte, die wir am Tag gelaufen sind. Wir leben in einer digitalen Welt und können uns dieser nur schwer entziehen.

Digitale Ureinwohner und digitale Migranten

Mit dem Begriff „digital natives“ oder „digitale Ureinwohner“ werden die Menschen bezeichnet, die seit ihrer Geburt von digitalen Medien umgeben sind. Auch die Bezeichnung „Generation C64“ wird gerne dafür verwendet. Jene Menschen, so die Beschreibung, kennen das „vordigitale“ Zeitalter nur aus Erzählungen. Digitale Ureinwohner leben in einem Zeitalter der Computer, der Smartphones, des Internets, der Videospiele und sozialen Medien. Täglich lesen sie Onlinezeitungen, Twitter-Nachrichten sowie Blogs, hören Podcasts und schauen Videoblogs. Sie lesen E-Books und streamen Filme und Serien.

Im Gegensatz zu digital natives stehen die „digitalen Migranten“. Sie kennen noch die Zeiten, bevor es Computer und Internet für die Massen gab. Sie sind mit Schallplatten sowie Audio- und Videokassetten aufgewachsen. Ihre Filme haben sie in Videotheken und Bücher in Büchereien ausgeliehen. Später kamen noch CDs und DVDs hinzu.

Stadtbibliothek Nürnberg (Fotorechte: schrittWeise)

Die beiden Begriffe hat Marc Prensky 2001 als erster definiert [1]. Einige Wissenschaftler versuchen eine klare Grenze mit Hilfsmitteln wie Geburtsjahren zu ziehen. Für John Palfrey und Urs Gasser ist beispielsweise das Jahr 1980 ein Wendejahr[2]. Alle älteren Geburtsjahrgänge gehörten demnach zu den „digital immigrants“. Beide Begriffe sind jedoch fließend, eine klare Trennung erscheint schwierig bis unmöglich. Die Kritik an einer Unterteilung der Gesellschaft in beide Gegenpole bezieht sich auch auf dieses Schwarz-Weiß-Denken. Die Bezeichnungen sind auch schon teilweise überholt, trotzdem finde ich sie sehr treffend, obwohl ich sie eher als Schubladen ansehen würde. Sie vereinfachen zwar das Problem, helfen aber eine Diskussion in Gang zu setzen.

Bibliotheken als Oasen der „digitalen Einwanderer“

Ich gehöre zwar nicht zu den Jahrgängen, die vor 1980 das Licht der Welt erblickt haben, jedoch würde ich mich trotzdem als einen „digitalen Einwanderer“ bezeichnen. Ich kenne und schätze noch eine Zeit, die außerhalb der „digitalen Blase“ stattgefunden hat und weiterhin stattfindet. Auch habe ich diese Zeit noch persönlich erlebt. In meinem Medienkonsum gibt es viele Überschneidungen mit den digitalen Ureinwohnern, trotzdem fühle ich mich als „digitaler Einwanderer“.

Bibliotheken gehören für mich zu einigen wenigen öffentlichen Orten, in denen Medien noch „physisch erfahrbar“ sind, weil sie angesehen und berührt werden können. Ähnliche Orte sind noch Museen, Kunstausstellungen, Buchhandlungen und andere Geschäfte, die Medien verkaufen, beispielsweise CDs, DVDs oder wieder Schallplatten.

Bibliotheken schätze ich für ihre Ruhe und schnelle Zugänglichkeit der gesuchten Medien. Sie sind Horte des Wissens und Oasen der Ruhe. In bestimmten Bereichen sind auch Begegnungen mit anderen Bibliotheksnutzern möglich. Während meiner Studienzeit habe ich viel Zeit in der Unibibliothek verbracht. Dort habe ich gerne die Arbeitsplätze der Bibliothek genutzt. Heute suche ich gerne die Stadtbibliothek auf und leihe mir verschiedene Medien aus. Trotz der fortschreitenden Digitalisierung mit eBooks, der unzähligen Streamingportale und sozialen Medien lese ich weiterhin gerne Bücher, höre CDs und schaue mir Filme auf DVDs oder Blue-Ray Discs an.

Altehrwürdige Universitätsbibliothek in Tübingen (Fotorechte: schrittWeise)

Die Zukunft sieht für diese Einrichtungen aber nicht sehr rosig aus. Die meisten Videotheken sind schon von der Bildfläche verschwunden und die kleinen Buchhändler können sich kaum noch über Wasser halten. Auch die Bibliotheken steigen schon auf E-Books und Onleihe um. Da bleibt nicht viel Platz für Romantik und Nostalgie. Brauchen „digitale Ureinwohner“ denn noch Bibliotheken? In den nächsten Jahren werden wir wohl alle zu „Ureinwohnern“. Bibliotheken sowie andere Einrichtungen, die im wahrsten Sinne mit Medien in Berührung kommen, werden sich darauf einstellen müssen. Sie werden zu einer Art „digitalen Mediotheken“.

Wie schätzt du dich ein, unabhängig von deinem Geburtsjahr? Würdest du dich eher als einen „digitalen Ureinwohner“ oder als „digitalen Einwanderer“ bezeichnen? Gehst du lieber in die nächste Bibliothek sowie zum Buchhändler deines Vertrauens oder „streamst“ du ausnahmslos alle Filme, Serien und Live-Musikkonzerte auf deinem Fernseher? Schreibe mir gerne deine Antwort als Kommentar.

Quellen

[1] Prensky, Marc: "Digital Natives, Digital Immigrants, Part I" in "On the Horizon" (NCB University Press, Vol. 9 No. 5, October 2001)
Link: http://www.marcprensky.com/writing/Prensky%20-%20Digital%20Natives,%20Digital%20Immigrants%20-%20Part1.pdf (zuletzt abgerufen am 31.07.2017)

[2] Palfrey, John und Gasser, Urs: "Born Digital: Understanding the First Generation of Digital Natives", Basic Books, 2008, S. 1
Link: http://pages.uoregon.edu/koopman/courses_readings/phil123-net/identity/palfrey-gasser_born-digital.pdf (zuletzt abgerufen am 31.07.2017)

10 Kommentare zu „Brauchen „digitale Ureinwohner“ analoge Bibliotheken?

Gib deinen ab

  1. Hallo schrittWeise,

    da gebe ich dir Recht, Zeitungspapier ist wesentlich einfacher zu recyceln, als Tonnen von Elektroschrott, die unsere Erde umgeben. In der Bibliothek begegnet man noch „echten“ Menschen und kommt mit staubigen Büchern in Kontakt, die man anfassen kann. Andererseits, hasserfüllte Menschen im Internet („Lichtmenschen“) lassen sich einfacher ausblenden als in der realen Welt.

    Spaß bei Seite, ich finde auch, dass wir sowohl digitale als auch reale, dreidimensionale Abbilder unserer Welt benötigen. Allerdings, dafür brauchen wir ein kluges Maß für die Belange des täglichen Lebens.
    Die Frage ist nur: Sind wir so weit?

    Gefällt 1 Person

  2. Spätestens mit dem Ableben der letzten analogen Ureinwohner werden öffentliche Bibliotheken verschwinden, in Mittelstädten mutmaßlich zuerst, dann in Kleinstädten, zuletzt in Großstädten, welche solcherlei Bidlungs- und Begegnungsstätten eventuell als weiche Faktoren bzw. aus einer Art sentimentaler Reminiszenz heraus zu quasi musealen Zwecken erhalten wollen. Im Grunde ist das Phänomen ja bei vielerlei Formen von Dienstleistung zu beobachten, wo der direkte Kontakt, die Beratung, die handgreifliche Prüfung in zunehmenden Maße ersetzt werden durch die Möglichkeit zur Online-Konfiguration, On-Leihe, Online-Tests, Bestellung und was weiß ich noch alles. Diese Entwicklung hat durchaus auch seine Vorteile, u. U. auch im Preis unter Ausschaltung des klassichen Zwischenhandels, aber angesichts der zunehmenden Bequemlichkeit und Anonymität bleibt doch ein diffuses Gefühl des Unbehagens.

    Gefällt 1 Person

  3. Das Thema sehe ich sehr ambivalent. Ich finde es in Ordnung, wenn man von einem Smartphone im Auto ans Ziel geleitet wird, dabei Staus umgehen und freie Parkplätze ansteuern kann. Die Straßen werden wenigstens etwas entlastet.
    Fitness Apps sind eine feine Sache – der beste Sport ist immer der, den man regelmäßig tut. Apps können da eine gute Möglichkeit sein sich selbst in dieser Hinsicht den Spiegel vorzuhalten.
    Nachrichten in der Zeitung sind schon zum Zeitpunkt des Erscheinens veraltet und sind überdies als einseitiges Medium schon längst aus der Mode und für so was soll man Bäume abholzen?
    Die Zeiten sind glücklicherweise vorbei, als man alles für bare Münze nahm was zwischen zwei Buchdeckeln stand. Du wirst dir sicherlich schon denken können, daß wir im Bezug auf soziale Medien bereits ein ziemlich gegensätzliches Problem bekommen haben.

    An den neuen Entwicklungen ist also nicht alles schlecht. Ist es aber paradox sich ein „altes“ Wertesystem zu erhalten und trotzdem neue Entwicklungen dankbar anzunehmen? Ich nehme an eine Bibliothek ist kein schlechter Ort um innezuhalten, aber ist der eigentliche Zufluchtsort nicht immer im Herzen, im Geiste gewesen?

    Bei Interesse können wir ja einen blogübergreifenden Diskurs dazu anfangen!

    Gefällt 1 Person

    1. Na ja, am tatsächlichen Nutzen solcher Sportl-Apps läßt sich schon auch zweifeln, entweder Du hast das Ertüchtigungs-Gen oder eben nicht. Dann gibt es ja auch Online-Zeitungen bzw. Online-Ausgaben etablierter altmodischer Blätter, die für viele Beitrage auch eine Kommentar-Funktion aufweisen, welche teils auch sehr rege genutzt werden. Und die vor-demokratischen Teil-Wahrheiten zwischen zwei Buchdeckeln sind mir dann immer noch lieber als der Wust an basis-demokratischen Alternativ-Wahrheiten unserer Zeit. Auch wenn ich, wir, hier und jetzt natürlich ein Teil davon sind. Für den Rest gebe ich Dir absolut Recht. Wohlsein und Grüßle vom See

      Gefällt 1 Person

      1. Jeder muss für sich selbst entscheiden, wie und ob er einzelne Apps und Navigationshelfer nutzen möchte. Schlimm finde ich jedoch die Entwicklung in den Kommentaren in sozialen Netzwerken, Online-Zeitungen, Foren und Blogs, in denen man viele hasserfüllte Gedanken und Meinungen findet.

        Like

    2. Ich finde ebenfalls an den neuen Entwicklungen nicht alles schlecht. Alleine indem ich diese Zeilen schreibe, beteilige ich mich selbst am „digitalen“ Entwicklungsprozess. Ich bin jedoch nostalgisch veranlagt und denke gerne an die Zeit zurück, in der „weniger mehr war“ in Bezug auf die Digitalisierung der Welt. Rückzugsorte sind meist im Geiste, da gebe ich dir recht, aber auch der Geist braucht hin und wieder audiovisuelle und haptische Anreize. Andererseits gibt es auch „Trends zur Rückbesinnung“, z.B. Menschen, die wieder alte Schallplatten kaufen. Und was die Abholzung der Wälder und Naturschutz anbelangt, da bin ich mir nicht sicher, ob die moderne Elektronik und der damit einhergehende Stromverbrauch ökologischer sind als recyclebares Zeitungspapier.

      Like

Schreibe mir gerne einen Kommentar :-)

Trage deine Daten unten ein oder klicke ein Icon um dich einzuloggen:

WordPress.com-Logo

Du kommentierst mit Deinem WordPress.com-Konto. Abmelden /  Ändern )

Twitter-Bild

Du kommentierst mit Deinem Twitter-Konto. Abmelden /  Ändern )

Facebook-Foto

Du kommentierst mit Deinem Facebook-Konto. Abmelden /  Ändern )

Verbinde mit %s

Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden..

Erstelle eine Website oder ein Blog auf WordPress.com

Nach oben ↑

%d Bloggern gefällt das: