Haijin, die berühmten japanischen Haiku-Dichter, schufen ihre Kurzgedichte oft zusammen mit ihren Freunden, Kollegen, auf Wanderungen oder Empfängen. Matsuo Bashō (1644–1694), einer der einflussreichsten Haiku-Autoren, dichtete das sogenannte Ur-Haiku im Kreise seiner Schüler:
Der alte Teich.
Ein Frosch springt hinein
das Geräusch des Wassers…Autor: Bashō [1]
Bashō sind die letzten beiden Zeilen zuerst eingefallen und er bat seine Schüler, den Anfang zu dichten. Sie saßen auf Bashōs Veranda, es war März und sie schauten in den Garten hinaus, in dem der sanfte Wind Kirschblühten in der Luft tanzen ließ. Der feine Regen tröpfelte auf der Oberfläche des Gartenteiches, in dem Frösche ihre Frühlingslieder sangen. Ein Schüler schlug „inmitten wilder Rosen“ vor, woraufhin der große Haijin lange schwieg, um dann das Haiku zu vollenden: „der alte Teich“.[2]
Ursprünge und Vorbilder
Die Vorgänger von Haiku waren japanische Kettengedichte, sogenannte Renga. Sie hatten eine Strophenfolge unbekannter Länge und wurden meistens von mehreren Personen gedichtet, die jeweils eine Strophe erdacht haben. Die Einzelstrophen bestanden abwechselnd aus Silbenfolgen 5 – 7 – 5 und 7 – 7. Das Dichten von Renga war eine Art Gesellschaftsspiel.[3]
Aus dem Startvers der Renga, Hokku genannt, entwickelte sich im 16. und 17. Jahrhundert das Haiku. Der Ehrengast der dichtenden Gesellschaft, durfte das Hokku, den Startvers des Kettengedichts, ausdenken. Diese Ehre gebührte meist einem durch das Land ziehenden Renga-Meister. Im Gegensatz zu allen folgenden Renga-Versen musste das einleitende Hokku keinen Bezug zu einer vorhergehenden Zeile haben und wurde bald eine eigenständige Gedichtform, aus der sich später das Haiku entwickelte.[4]
Traditionelle Haiku nehmen meist einen Bezug zur Natur und Jahreszeiten. Sie beinhalten ein sogenanntes Jahreszeitenwort oder spezielle Phrasen, Kigo auf Japanisch, womit eine bestimmte Jahreszeit näher bestimmt werden kann.

Einige Beispiele sind eindeutig, wie „der Schnee“, „herabfallende Blätter“, „der Frühling“, andere bedürfen wiederum einer näheren Kenntnis der landesspezifischen und botanischen Hintergründe, wie „Kirschblüten“, „Lotosblume“ oder „Pflaumenblüte“, um die Jahreszeit bestimmen zu können.
Eine spezielle Untergattung des Haiku oder für einige Experten sogar eine dem Haiku „ähnliche Gedichtform“ ist das Senryū. Das Senryū setzt sich in erster Linie mit dem „seelischen Erleben, mit dem Persönlichen, dem Emotionalen“ auseinander, während das traditionelle Haiku mehr die Natur in den Mittelpunkt stellt.[6]
Die Kirschblüten sind gefallen –
zwischen den grünen Zweigen erscheint
der TempelAutor: Yosa Buson (1716–1783) [7]
Übersetzungsprobleme und die Form „5 – 7 – 5“
Die Schwierigkeit, Haiku in eine andere Sprache zu übersetzen oder sie gar in einer anderen Sprache zu schreiben, besteht in der Besonderheit des Japanischen. Die klassische japanische Form folgt der Vorgabe, ein Haiku in drei Wortgruppen (drei Zeilen im Deutschen) zu schreiben, die je 5, 7 und 5 Silben haben. Im Japanischen entsprechen diese Silben meist den Lauteinheiten (Moren), die sich im Deutschen nicht auf Silben reduzieren lassen. Außerdem ist die Verknüpfung der Worte im Japanischen wesentlich lockerer als in der deutschen Sprache.[8]
Dichter der „Haiku-Zeit“, die im 17. Jahrhundert begann und mit dem 19. endete, haben neben der Silbenvorgabe, drei inhaltliche Bedingungen für Haiku-Dichtung befolgt. Zum einen soll Haiku (zumindest als Andeutung) einen Naturgegenstand außerhalb der menschlichen Natur behandeln. Zum zweiten soll es sich auf ein einmaliges Ereignis, eine einmalige Situation beziehen und diese(s) soll drittens als gegenwärtig dargestellt werden. Mit diesen Vorgaben wollten die Haijin, Haiku-Dichter, sicherstellen, dass die Haiku „konkret“ bleiben.[9]
In der Mitte
der Hängebrücke erreichte mich
der Ruf des KuckucksAutor: Kobayashi Issa (1763–1827) [10]

Einladung zum Schreiben von Haiku
Heute ist das Schreiben von Haiku auch außerhalb Japans sehr beliebt. Die internationalen Haiku-Autoren sehen dabei die traditionellen Regeln als Richtlinie und nicht als starre Vorgabe. Zur Illustration sei ein modernes Beispiel aus dem deutschsprachigen Raum genannt:
ich gehe den weg
schiebe den Hügel zur seite
der mir das Meer verstelltAutor: Philipp Luidl [11]
Krusche schreibt über Haiku-Dichtung: ein Haiku „ist nicht zufrieden mit sich, es bedarf der Kooperation. Die hat aus zweierlei zu bestehen: aus Nachvollzug und Fortsetzung. Mach was aus mir, sagt das Haiku – oder auch: Spiel mit mir!„[12]
In dem Sinne würde ich mich freuen, wenn wir, ihr als Blogleser und ich, gemeinsam einige Haiku oder Senryū schreiben könnten. Sehen wir diesen thematischen Beitrag als eine „Schreibwerkstatt“ an, als eine Quelle der Inspiration und eine Gelegenheit zum kreativen Schreiben.
Wir sollten uns nicht streng an Formvorgaben halten, denn die traditionellen japanischen Haiku-Regeln könnten wir erst einhalten, wenn wir das Japanische richtig beherrschen würden und so lange möchte ich ungern warten 😉
Für die Haiku-Dichtung in den Kommentaren gibt es keine zeitliche Vorgabe, denn Inspiration und Kreativität dulden keinen Zeitdruck.
… jetzt seid ihr an der Reihe 😉
Update: Danke, dass ihr so zahlreich mitgemacht habt. Alle eingereichten Haiku habe ich in diesem Beitrag zusammengefasst. Die Mitmachaktion ist beendet.
Ich wage den ersten Schritt:
Donnergrollen –
Regentropfen spiegeln meine Gedanken
Traum eines SommersAutor: Dario schrittWeise
Quellenangaben
[1] Krusche, Dietrich [Hrsg.]: „Haiku. Japanische Gedichte“, München, S. 126 [2] Krusche, S. 126f. [3] Krusche, S. 120f. [4] https://deutschehaikugesellschaft.de/haikulexikon/glossar (zuletzt abgerufen: 04.08.2017) [5] https://deutschehaikugesellschaft.de/haikulexikon/glossar (zuletzt abgerufen: 04.08.2017) [6] https://deutschehaikugesellschaft.de/haikulexikon/glossar (zuletzt abgerufen: 04.08.2017) [7] Krusche, S. 42 [8] Stolz, Rainer und Wenzel, Udo [Hrsg.]: "Haiku hier und heute", München 2012, S. 137 [9] Krusche, S. 116 [10] Krusche, S. 65 [11] Stolz und Wenzel, S. 81 [12] Krusche, S. 7
Eiswind
kahle Äste tanzen
vor dem gelben Mond
HannahP. 3.2021
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Hallo Hannah, sehr schöne Zeilen. Liebe Grüße, Dario 🙂
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Danke 😊
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Am kahlen Ast
aufgereihte Regenperlen
Platsch platsch
Hannah P. 1.2021
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Hallo Hannah, herzlichen Dank für das schöne Gedicht. Liebe Grüße und einen angenehmen Abend, Dario 🙂
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Autobahn-Haiku
Vollgetankt: Fünfzig
Liter Super im Auto
So viel ist möglich!
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Hallo Richard,
mit einem vollgetankten Wagen ist tatsächlich einiges möglich 😉
Danke für den schönen Haiku.
Freundliche Grüße, Dario 🙂
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Liebende Seele weisen Schreitens
Als ich meinen Fuß betrachtete
Unter mir erdenschwer
Mir den Weg schreitend
Blickte ich nach oben
Himmlische Leichtigkeit
Dankbar lächelnd erschauend
Dir Joaquim von Herzen
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Danke, Joaquim, für die wunderbaren Zeilen. Liebe Grüße und noch einen schönen Sonntag
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finstere Wolken
überschatten unsere Welt,
ich träume vom Frieden.
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Mondfinsternis teilweise
ist der Himmel noch hell
leuchtend wie die rote Erde.
SL
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Vielen Dank für den stimmungsvollen Haiku, SL.
Liebe Grüße,
schrittWeise
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Volles Baumleben
Bald wirft der Baum Blätter ab.
Heute trinke ich.
(Vielleicht ein Senryu.. danke für deinen Artikel!)
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Danke für den Beitrag, ob Haiku oder Senryu 🙂
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Gute Idee, da mache ich gerne mit:
Glockenblumen läuten blau.
Ein Schmetterling reißt
mich aus meinem Traum.
(Haiku von Sabinaiku – Sabine Engertsberger)
Herzliche Grüße 🙂
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Hi Sabine,
danke für deinen Kommentar und den inspirierenden Haiku. Liebe Grüße, schrittWeise
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Eine Fußballwiese
Schweiß fließt
der Schlechtere gewinnt.
Autor: Alexius B.VB
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Hallo Alexius B.VB,
danke für deinen Fußball-Haiku bzw. -Senryū.
Liebe Grüße,
schrittWeise
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Ich beobachte wie der Himmel
ins Meer blutet –
das Gold des Sonnenuntergangs.
Wišnja
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Hallo Wišnja,
danke für deinen kraftvollen Haiku.
Liebe Grüße,
schrittWeise
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Hallo lieber schrittWeise,
dein Haiku-Beitrag hat mich nicht nur wegen den vielen Informationen überrascht, sondern er hat mich auch zu einem eigenen Haiku animiert. Das ist zwar ein „eigenartiges“ Gedicht geworden, aber immerhin… 😉
Liebe Grüße,
Wišnja
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