Das Retabel von Riemenschneider in Detwang

Fast 300 Jahre nach dem Tod von Tilmann Riemenschneider wurde bei Straßenbauarbeiten in Würzburg dessen Grabstein gefunden. Diese Entdeckung rückte das Leben und die Kunst des 1460 in Heiligenstadt im Eichsfeld geborenen Bildschnitzers und Bildhauers wieder in den Fokus der Öffentlichkeit, der nach seinem Tod in Vergessenheit geriet.

Tilman Riemenschneider gehörte zu den bedeutendsten Künstlern der deutschen Spätgotik. In den ersten urkundlichen Erwähnungen wird er als „Malerknecht“ und später als Geselle bezeichnet. Im Alter von 25 Jahren, im Jahr 1485, erhielt er das Bürgerrecht. Bald darauf eröffnete er eine eigene Werkstatt, die es ihm ermöglichte, noch mehr Aufträge anzunehmen. Das Bürgerrecht gewährte ihm den Zugang zur Meisterwürde und später auch zu politischen Ämtern, unter anderem als Bürgermeister und einen Sitz im Stadtrat von Würzburg.

Zu Riemenschneiders Werken zählen Arbeiten in Würzburg, Bamberg, Münnerstadt, Volkach oder Windsheim. Auch im fränkischen Taubertal schuf er mit seiner Würzburger Werkstatt mehrere sehenswerte Werke wie zum Beispiel in der Herrgottskirche von Creglingen, Pfarrkirche Mariä Himmelfahrt in Aub, Marienkirche in Bad Mergentheim und in der Jakobus- und Klosterkirche von Rothenburg ob der Tauber.

Im Bauernkrieg (1524 – 1526) setzte sich Riemenschneider für die Bauern ein, was später zu vielen Nachteilen führte. Er verbrachte sogar einige Wochen im Gefängnis und bekam danach keine größeren Aufträge mehr. Tilmann Riemenscheider starb 1531 in Würzburg. Sein Sohn Jörg übernahm seine Werkstatt und schuf den eingangs erwähnten Grabstein für seinen Vater.

Kirche St. Peter und Paul

Ein weniger bekanntes Werk von Riemenschneider ist das Kreuzigungs-Retabel von Detwang, das ich im Herbst 2020 besichtigen konnte, als ich einige Tage im Taubertal verbracht hatte. Das Kunstwerk befindet sich in der evangelisch-lutherischen Pfarrkirche St. Peter und Paul. Das ehemalige Reichsdorf Detwang, ungefähr 2 Kilometer von Rothenburg ob der Tauber entfernt, wurde erstmals im Jahr 930 urkundlich erwähnt.

Kirche St. Peter und Paul in Detwang bei Rothenburg ob der Tauber.

Die romanische Kirche ist eine sogenannte Mutterkirche von St. Jakob in Rothenburg, was auf dem ersten Blick nicht zu erkennen ist, wenn man die Kirchen miteinander vergleicht, die Tochterkirche ist heute viel größer und berühmter. Wer die Kirche in Detwang betritt, bemerkt schnell die ca. 1000-jährige Geschichte des Gebäudes.

Häufig können in europäischen Gotteshäusern verschiedene Baustile ausgemacht werden. In der St. Peter-und-Pauls-Kirche sind der romanische und der gotische Stil prägend, wie man es beispielsweise an den gotischen Spitzbögen unschwer erkennen kann.

Riemenschneideraltar im Chorraum mit den gotischen Bögen der Kirche St. Peter und Paul

Riemenschneiders Kreuzigungs-Retabel von Detwang

Das Kreuzigungs-Retabel befindet sich im Chorraum der Kirche St. Peter und Paul, unterhalb des Turms. Es wurde von Riemenschneider vermutlich um 1505 – 1508 geschnitzt. Das Kreuzigungs-Retabel gehört zu sogenannten Flügelretabeln. Das ist ein Altarretabel, ein Altaraufsatz, welcher aus einer Mitteltafel und zwei Flügeltafeln besteht.

Das Kunstwerk ist leider nicht vollständig erhalten geblieben, weil es beim Transport verkleinert wurde. Zum ehemaligen Aufenthaltsort ist nicht viel bekannt, es wird aber vermutet, dass das Retabel ursprünglich entweder in der Michaeliskapelle oder der Dominikanerinnenkirche in Rothenburg ob der Tauber aufbewahrt wurde. Beide Gebäude existieren heute nicht mehr. Beim Verkleinern des Retabels wurden leider auch einige Figuren entfernt, wie Wissenschaftler in Vergleichen mit anderen Kunstwerken von Riemenschneider, die ähnliche Motive darstellen, herausgefunden hatten.

Die Abbildung der drei Reliefs

Der Schrein des Kreuzigungs-Retabels besteht aus Föhrenholz und die Figuren sind aus Lindenholz. Das Retabel ist farblos, wie viele Werke von Riemenschneider. Auf diese Weise bleiben die präzise und fein bearbeiteten Figuren im Fokus und können sich gut entfalten.

Auf den drei Reliefs wird die Kreuzigungsgeschichte von Jesus Christus erzählt. Auf dem linken Flügelrelief ist die Szene „Christus betet am Ölberg“, in der Mitte die Kreuzigungsszene und auf dem rechten Relief „die Auferstehung von Jesus Christus“ abgebildet.

Zentrales Relief: „Die Kreuzigungs-Szene“

Im Mittelteil des Riemenschneiderretabels sehen wir das klassische Motiv von Jesus auf dem Kreuz. Jesus‘ Augen sind geschlossen, seinen Kopf mit der Dornenkrone hat er gesenkt. Vermutlich zeigt ihm die Holzskulptur im Moment seines Todes, worauf auch die Wunde links unterhalb der Rippen hindeutet. Über ihm ist die bekannte Innschrift „INRI“ angebracht: „Jesus Nazarenus Rex Judaeorum“ (Jesus aus Nazareth, König der Juden).

Jesus auf dem Kreuz (Detail)

Zu Füssen des Gekreuzigten stehen in der unteren linken Bildecke trauernde Frauenfiguren, die sich um Maria und den Heiligen Johannes versammeln. Maria wird links von Johannes und rechts von einer der trauenden Frauen gestützt. Mit ihren Armen bildet sie eine Kreuzgeste. Hier ist die Detailtreue der Figurengestaltung gut erkennbar, beispielsweise an den Locken von Johannes oder am Faltenwurf der Frauenkleider.

Maria, Hl. Johannes und die trauernden Frauen (Detail)

In der unteren rechten Ecke sind der Hohepriester Kaiphas und Soldaten, Kriegsknechte, versammelt, die an ihren Helmen zu erkennen sind. In dieser Figurengruppe wird noch von der Wissenschaft die Figur des Hauptmanns vermisst, die laut der Bibel Jesus am Kreuz erkannt hat. Die Figur wurde beim Transport des Retabels ebenfalls wie die Figur von Maria Magdalena entfernt, die das Kreuz umklammert haben soll.

Es hat den Anschein, dass Riemenschneider die Szenen in das 16. Jahrhundert versetzte, weil alle seine Figuren nicht wie Zeitgenossen von Christus, sondern nach Art seiner eigenen Zeit gekleidet sind. Auf diese Weise wollte er vermutlich die Zeitlosigkeit des dargestellten Geschehens darstellen.

Figuren unter dem Kreuz (Detail)

Linker Seitenflügel: Christus am Ölberg

Auf dem linken Flügelrelief ist die Vorgeschichte der Kreuzigung dargestellt. Jesus betet auf dem Ölberg. Im unteren Bereich des Reliefs sind drei Männerfiguren angeordnet, es sind die Apostel Jakobus, Johannes und Petrus (von links nach rechts). Sie schlafen, während Jesus in seinen letzten Stunden betet, wohlwissend, was auf ihn zukommt. Johannes hält in seinen Arm ein Buch, es ist vermutlich die Bibel.

Jesus am Ölberg (Detail)

Rechtes Relief: „Die Auferstehung Christi“

Auf dem rechten Flügelrelief ist „Die Auferstehung Christi“ dargestellt. Christus erscheint hier als Sieger, wofür seine aufrechte Haltung und der Stab mit dem Kreuz und einer Fahne stehen, die häufig in der Darstellung der Auferstehung als Siegeszeichen verwendet wurden. Mit der rechten Hand segnet er die Menschen auf dem Bild, aber auch die Betrachter des Retabels. Die Christusfigur steht auf einem Felsen neben der Grabplatte, sie verlässt somit auch bildlich das Reich des Todes.

Auferstehung Christi (Detail)

Die Figuren im oberen und unteren Bildbereich

Im oberen Bereich des Reliefs sind drei Frauen zu sehen, die sich dem Geschehen näheren. Sie passieren das Tor einer Umzäunung und treten somit im wahrsten Sinne des Wortes auf die Bildoberfläche.

Im unteren Bildbereich sind drei Männerfiguren dargestellt, von welchen zwei schlafen und die  dritte Jesus ansieht, jedoch einen Arm vor dem Gesicht hält, vermutlich, um nicht geblendet zu werden. Es sind mutmaßlich Wächter, die vor dem Grab darauf achten sollten, dass niemand die Leiche stehlen kann.

Die Wächter und der Auferstandene (Detail)

Die Figur des Beobachters und eine persönliche Vermutung

Für die Figur, die sich im mittleren Relief zwischen dem Kreuz und dem Priester Kaiphas befindet, habe ich eine These. Darin könnte sich der Künstler verewigt haben. Zu jener Zeit haben sich die Künstler häufig in Portraits von Figuren auf dem Kunstwerk verewigt, was für das Kreuzigungs-Retabel nicht bezeugt ist, aber dafür in einem anderen Werk von Riemenschneider vermutet, im Creglinger Marien-Retabel. Darin glaubte ich eine Ähnlichkeit zu diesem Portrait erkennen zu können. Die Figur stellt vermutlich einen Söldner dar, ob ihm der Künstler seine eigenen Gesichtszüge verliehen hatte, wird eine Spekulation bleiben.

Die Figur eines Kriegsknechtes der Kreuzigungsszene (Detail)

Das mutmaßliche Selbstbildnis von Tilmann Riemenschneider fotografierte ich in der Creglinger Herrgottskirche, ich welcher ich ebenfalls im Herbst 2020 war. Die Figur ist ein Teil der rechten Nische „Der zwölfjährige Jesus im Temple“. Es ist aber nicht geklärt, ob es sich wirklich um ein Selbstbildnis von Riemenschneider handelt. Vielleicht beschreibe ich das Creglinger Marien-Retabel in einem der kommenden Blogbeiträge.

Das vermutete Selbstportrait von Riemenschneider aus der Creglinger Herrgottskirche (Detail)

Vergleich mit dem Heilig-Blut-Altar von Rothenburg ob der Tauber

Lohnenswert ist ein Vergleich mit dem rechten Seitenflügel des Heilig-Blut-Altars von Rothenburg ob der Tauber, der ebenfalls von Tilmann Riemenschneider und seiner Werkstatt stammt. Darin sind viele Ähnlichkeiten mit der Ölberg-Relief des Detwanger Altars erkennbar. Auf dem Flügelrelief des Heilig-Blut-Altars von Rothenburg ist die Szene seitenverkehrt dargestellt. Auch hier sind drei schlafende Figuren unterhalb von Christus abgebildet.

Im Hintergrund sehen wir noch eine Figurengruppe, die sich dem betenden nähert, vermutlich sind es Judas mit Soldaten, die Jesus zum Pontius Pilatus bringen sollen. Diese Figurengruppe fehlt auf dem Detwanger Retabel, es könnte aber sein, dass eine ähnliche Darstellung zu den entfernten Elementen des ursprünglichen Kunstwerks gehörte. Ein weiteres Indiz dafür ist die Figurengruppe von drei Frauen in der Auferstehungs-Szene des Kreuzigungs-Retabels, die sich ebenfalls im Hintergrund des Reliefs befindet. Die Söldnergruppe würde dazu ein Gegenstück bilden.

Der rechte Seitenflügel des Heilig-Blut-Altars von Rothenburg ob der Tauber

Die Figuren des Verräters Judas und der Soldaten im Hintergrund verstärken die bedrückende Stimmung der Szene. Christus in der Reliefmitte ist ein zu Tode Verurteilter, er betet, während ihm die Gefahr, verkörpert in Form der Kriegsknechte, immer näherkommt.

Meine Gedanken zum Kreuzigungs-Retabel

Das Riemenschneider-Retabel von Detwang fand ich beeindruckend. Mich störte es dabei auch nicht, dass das Kunstwerk scheinbar unvollständig ist. Die Figuren und die Hintergründe wurden von Riemenschneider und seiner Werkstatt sehr filigran geschnitzt. Die von den drei Reliefs erzählte Geschichte der Auferstehung wird sehr detailliert dargestellt.

Das Fehlen einer Farbschicht ermöglichte es mir, die herausragende Kunstfertigkeit besser wahrzunehmen. Den Effekt der schlichten Gestaltung finde ich für das dargestellte religiöse Motiv sehr passend, obwohl bisher nicht abschließend geklärt werden konnte, ob das Retabel so schlicht bleiben sollte. Die Stimmung in der Kirche St. Peter und Paul war an jenem Herbstabend sehr angenehm ruhig. Ich war allein mit dem Kunstwerk und konnte es mir ohne Ablenkung ansehen.

Quellen

Iris Kalden-Rosenfeld: Tilman Riemenschneider und seine Werkstatt. Mit einem Katalog der allgemein als Arbeiten Riemenschneiders und seiner Werkstatt akzeptierten Werke, Langewiesche, Königstein im Taunus 2001; 4., aktualisierte und erweiterte Auflage 2011
Hanswernfried Muth (aktualisiert von Iris Kalden-Rosenfeld): Riemenschneider in Franken. Langewiesche, Königstein im Taunus 2009
Vetter, Ewald; Denker, Jürgen; Oellermann, Karin; Oellermann, Eike: Riemenschneider – Detwanger Altar, Dr. Ludwig Reichert Verlag, Wiesbaden 1996
https://museum-franken.de/sammlung/riemenschneider.html (zuletzt abgerufen: 17.06.21)
http://rothenburg-evangelisch.de/index.php/pfarrei-st-jakob/st-peter-und-paul-detwang (zuletzt abgerufen: 17.06.21)
https://www.romantisches-franken.de/poi/detail/5adef5ba975a2cb9f1a5cf8a (zuletzt abgerufen: 17.06.21)
https://www.rothenburg-tourismus.de/entdecken/zeitreise/kirchen/#1524752032888-64892ad1-ef07 (zuletzt abgerufen: 17.06.21)

8 Kommentare zu „Das Retabel von Riemenschneider in Detwang

Gib deinen ab

  1. Na sowas! Danke. Das klingt vollkommen geheimnisvoll. Ein Porträt von Meister Riemenschneider könnte helfen, herauszufinden, ob eines der dargestellten Gesichter, wie du es vermutest, eigentlich ein Selbstporträt von Tilmann Riemenschneider ist. Eine wahre Detektivarbeit. S.M.

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  2. Lieber Dario, danke für deinen interessanten, auskunftsreichen Beitrag zur Kunstgeschichte. Unter anderem zeigt er auch ganz deutlich, wie vergänglich der Ruhm ist. Besonders spannend finde ich deine detaillierten Kommentare, Thesen und Voraussetzungen. Mich interessiert es schon sehr, warum die zwei bedeutenden Figuren Maria Magdalena und der Hauptmann entfernt sind? Auch, ob irgendwo ein Porträt von Tilmann Riemenschneider existiert?

    LG, schönen Abend und eine gute, friedliche Woche!
    Sophie Mai

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    1. Hallo Sophie, vielen Dank für deinen Kommentar und die interessanten Fragen. Bei den entfernten Bildelementen konnte jedoch nicht mit Sicherheit geklärt werden, was genau fehlt. Deswegen ist es auch schwierig, die Gründe zu finden. Es wird auch der Engel Michael vermutet, weil das Retabel evtl. in der Michaeliskirche von Rothenburg stand. In erster Linie ging es darum, die einzelnen Reliefs zu verkleinern. Alles andere ist Spekulation. Und Portraits von „Meister Til“ gibt es einige, am genauesten wurde er wohl auf seinem Grabstein abgebildet. Liebe Grüße und ebenfalls einen schönen Abend, Dario 🙂

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  3. Für Deine Darstellung und Diskussion vielen Dank. Die Kirche in Detwang ist wundervoll, vor Jahren besucht mit Freunden bei einer Tour durch das Taubertal von Rothenburg nach Wertheim.
    Möge das Werk des Würzburger Künstlers mit den geschilderten Motiven von Kreuz, Tod und Trauer im Schrecken über die gestrige Gewalttat in Würzburg trösten und besinnen lassen. Anteilnehmend, mitfühlend
    Bernd

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    1. Hallo Bernd, die Kirche mit dem Kunstwerk von Riemenschneider fand ich auch sehr schön. Den Weg nach Wertheim bin ich letztes Jahr gegangen, vermutlich schreibe ich demnächst ein wenig darüber. Zuerst möchte ich die anderen Wander-/Pilgerwege zu Ende beschreiben.

      Ich schließe mich deinen Gedanken und Wünschen an.

      Alles Gute und liebe Grüße, Dario 🙂🍀🐞

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    1. Das finde ich auch. Bei der Recherche habe ich immer wieder darüber gelesen, welche Details vermutlich vom Meister und welche von den Mitarbeitern seiner Werkstatt angefertigt worden sind. Dann wurde das Retabel später wohl immer wieder überarbeitet. In Würzburg kann man viele Arbeiten von Riemenschneider sehen. Liebe Grüße, Dario

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