Die Begegnung in den Ruinen [4.3]

Manas, Pyronnas und Ysella suchen im Haus der Schreiber nach einem Wegweiser zur alten Stadt Nahraan. Sie werden von Gatton, dem Anführer der Stadtwache überrascht. Er erkundigt sich bei ihnen nach Alrond, der seit drei Tagen nicht mehr in Phoenixstein gesehen wurde. Zudem verbietet er ihnen, sich weiter in die Angelegenheiten der Stadtwache einzumischen.

Einen Tagesritt weiter erreichen Lyssea und die Kräuterkundige die Stadt Dorran, nachdem sie eine unliebsame Begegnung mit der Verlorenen Legion hatten. In der Stadt wollen sie übernachten, bevor sie nach Phoenixstein zurückreiten werden.

Die Erzählung „Die Begegnung in den Ruinen“ ist der vierte Teil der Reihe „Geschichten aus dem Blauen Nebelgebirge“.

Was bisher geschah

  • Geschichten aus dem Blauen Nebelgebirge: Übersichtsbeitrag
  • Teil 3 – Untergegangene Welt 3.6
  • Teil 4 – Die Begegnung in den Ruinen 4.1
  • Teil 4 – Die Begegnung in den Ruinen 4.2.

Die Begegnung in den Ruinen 4.3

Lyssea und ihre Begleiterin ritten auf ihren Pferden in die Stadt Dorran. Die Stadt war umgeben mit einer hohen Steinmauer.
Die Bauweise der einfachen Holzhäuser folgte immer dem gleichen viereckigen Muster. Deshalb unterschieden sich die meisten nur wenig voneinander.
Nur ein Gebäude hob sich vom Rest ab: es war ein Tempel, wie Lyssea es vermutete. Das Gebäude war ein Rundhaus mit einem ockerfarbenen Flachdach. „Wir werden in der Taverne nach einem Schlafplatz fragen“, schlug Tessia vor.
Die Stadt war ruhig, nur vereinzelte Bewohner liefen an ihnen vorbei und betrachteten sie neugierig, aber freundlich. Sie betraten die Taverne „Neugieriger Nachbar“. Ein bekannter Geruch kam aus der Küche. Die Wirtin bereitete einen Eintopf für mehrere Gäste vor. Der schwere Rauch aus der Feuerstelle umhüllte sie, als sie eintraten.
An einem der Tische betrachtete sie ein Mann eindringlich. Er stand auf und lief humpelnd auf sie zu.
„Guten Abend, meine Damen!“, begrüßte er sie. Er war ein Mann mittleren Alters. Sein Bein war verbunden mit Stofffetzen.
„Riandell!“, rief Tessia freudig aus.
„Hallo Riandell, was machst du denn in diesem verlassenen Nest? Und was ist mit deinem Bein passiert?“, fragte Lyssea.
„Ach das, ihr kennt ja die Situation, in die wir geraten sind, als wir auf unserer Reise durch das Nebelgebirge bei Tessias Hütte angelangt sind.“
„Alrond hat uns alles erzählt. Zwei Wechselinge haben Tessia gefangen genommen und dann habt ihr sie befreit.“ Lyssea betrachtete ihr Begleiterin besorgt.
„Ich bin euch noch heute dankbar dafür“, sagte die Kräuterkundige. „Was ist danach passiert?“

Manas trat durch die Holztür in einen kleinen, halbdunklen Raum. Pyronnas und Ysella folgten ihm. Unzählige Tonkrüge und Holzkisten stapelten sich hier. Im Raum roch es nach Tinte und abgestandener Luft.
„Wie sollen wir die Karte jemals in diesem Durcheinander finden?“, beklagte sich Ysella.
„Das ist keine Unordnung“, erwiderte Pyronnas pikiert. „Alles hat ein System.“
Manas sah sich verwirrt um. Er konnte keine Markierungen oder Hinweise auf ein System erkennen.
„Auf dieser Seite befinden sich die Roten Tonkrüge. Darin bewahren wir die Geschichte des Königreichs Kenaris auf.“ Pyronnas deutete auf ein Regal mit mehreren Krügen.
„Und hier findet ihr die Finanzberichte der letzten zehn Jahre.“ Er öffnete einen schwarzen Tonkrug und holte eine Schreibrolle hervor.
„Das hilft uns aber nicht weiter“, sagte Manas ungeduldig. „Wo können wir die Wegbeschreibung zu den alten Höhlengängen finden?“
„Lasst mich mal sehen … Seht her, was ich gefunden habe!“ Pyronnas holte mehrere Schreibrollen aus einer Kiste hervor.
„Was ist das? Hast du die Wegbeschreibung gefunden?“ Ysella beugte sich hoffnungsvoll über die Schulter des alten Schreibers.
„Ich vergesse immer wieder, dass ihr nicht lesen könnt“, erwiderte Pyronnas und sah sie nachdenklich an.
„Noch habe ich die Wegbeschreibung nicht gefunden, aber etwas Interessantes. Die Chroniken von Alrond.“ „Ach, seine seltsamen Geschichten“, sagte Ysella. „Das sind bestimmt keine Chroniken, sondern Hirngespinste eines gelangweilten Schreibers.“
„Da wäre ich nicht so sicher“, mischte sich Manas ein. „Er beauftragte mich von Zeit zu Zeit mit kleinen Aufträgen. Nichts Besonderes, aber ich sollte für ihn Informationen sammeln. Zuletzt bat er mich darum, die Passagiere der ankommenden Schiffe zu beobachten. Als ob er jemanden erwartet hätte.“
„Ja, und? Das beweist nur, wie verrückt das alles ist“, scherzte Ysella.
„Vor einigen Tagen ist ein Reisender nach Phoenixstein gekommen …“

„Das ist noch kein Beweis“, unterbrach ihn Ysella ungeduldig.“

„Wir werden sehen. Suchen wir lieber weiter nach den Schriften.“ Pyronnas legte die Schreibrollen von Alrond beiseite.
„Welche Geschichten sind das?“, wollte Manas wissen.
„Lasst mich nachsehen“, er rollte einige Rollen nacheinander auf. „Die ungeklärten Ereignisse im Nebelgebirge, Das Reich der Oktopoden, Ein verschollenes Volk, Die Dunkle Herrin und die untergegangene Welt, Der goldene Vogel …“
„Warte, wie hieß die vorletzte Geschichte?“, unterbrach ihn Ysella.
„Die Dunkle Herrin und die untergegangene Welt“, wiederholte Pyronnas.
„Er hat uns doch auf unserer Reise im Planwagen von Tuson über seine Begegnung mit dieser Frau erzählt „, erinnerte sich Ysella. „Und die untergegangene Welt könnten diese unterirdische Gänge sein.“
„Eine gute Idee. Ich überfliege mal seine Geschichte.“ Pyronnas vertiefte sich in die Zeilen. „Wie es aussieht, vermutet Alrond den Eingang unterhalb vom Berg der verdammten Seelen“, fasste er das Gelesene nach einigen Minuten zusammen. „Dort soll es laut der Schriftrolle ein Tor geben, das in das Gängesystem führt. Es befindet sich in der Nähe der Felsformation „Die drei Schwestern“.

„Das ist ein Anhaltspunkt, aber leider ein sehr wager. Wir wissen nicht, wo sich diese „Drei Schwestern“ befinden, weil sich seit vielen Erdzyklen niemand in die Gegend gewagt hat.“ Manas kratzte sich am Kopf.
„Ich denke, wir wissen es schon“, erwiderte Pyronnas nach einigen Augenblicken. „Mein Großvater hat mir mal erzählt, dass er sich als junger Mann im Verbotenen Moor verirrt hat. Er hat auf der Jagd nach einem Roten Hirsch die Orientierung verloren. Er hat ihn bei diesen drei Felsen gefunden.“
„Wie hat er den Weg wiedergefunden?“
„Er hat mir erzählt, dass er zuerst umhergeirrt ist, bevor er einem Bach gefolgt ist. Später ist ihm aufgefallen, dass es sich um den Bach Tyller handelt.“
„Der bekanntlich in unseren Stadtfluss mündet“, stellte Ysella fest. „Das heißt, diejenigen, die zu den drei Felsen gehen möchten, sollen nur dem Flusslauf folgen?“
„Ja, in südöstliche Richtung. So hat es mir zumindest mein Großvater beschrieben.“
„War seitdem jemand in dieser Gegend gewesen?“, wollte Manas wissen.
„Mir ist zumindest niemand bekannt. Die Gegend heißt nicht ohne Grund „Das verbotene Moor“. Laut dem königlichen Beschluss darf sich niemand dorthin begeben.“
„Warum ist das so?“, fragte Ysella.
„Außerhalb der Königsburg weiß es niemand“, erwiderte der betagte Schreiber achselzuckend. „Manche königlichen Beschlüsse müssen wir einfach hinnehmen. Wie in diesem Fall sind viele Gesetze Jahrhunderte alt.“
„Das müssen wir wohl vorerst. Aber zumindest haben wir jetzt einen groben Anhaltspunkt“, sagte Manas. „Ich weiß, wie wir Alrond und Wad leichter finden können.“
Fortsetzung folgt

Titelfoto: Die Stadtmauern von Dorran, Fotorechte: Dario Schrittweise

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