Untergegangene Welt [3.6]

Mit dieser Fortsetzung endet der dritte Teil der Fortsetzungsgeschichte. In der letzten Fortsetzung der Erzählung „Untergegangene Welt“ reitet Lyssea mit der Kräuterkundigen nach Phoenixstein zurück. Viele Kilometer weiter entdecken Alrond und seine Begleiter eine alte Wehrmauer, tief unter der Hauptstadt des Königreichs. Und Manas sucht mit Pyronnas in der Hütte der Schreibenden die Aufzeichnungen über den Eingang in die Höhle.

Die Erzählung „Untergegangene Welt“ ist der dritte Teil der Reihe „Geschichten aus dem Blauen Nebelgebirge“.

Was bisher geschah

  • Geschichten aus dem Blauen Nebelgebirge: Übersichtsbeitrag
  • Teil 2 – Die Stadt des Lichtbringers: 5. Fortsetzung
  • Untergegangene Welt: 3.1
  • Untergegangene Welt: 3.2
  • Untergegangene Welt: 3.3
  • Untergegangene Welt 3.4
  • Untergegangene Welt 3.5

Untergegangene Welt 3.6

„Mir ist zu Ohren gekommen, dass Alrond seit drei Tagen nicht mehr in Phoenixstein gesehen wurde. Was sagt ihr dazu?“, fragte sie Gatton mürrisch. Er blickte sich misstrauisch in der Schreibstube um.
„Ja, er ist seit drei Tagen nicht in der Schreibstube gewesen“, antwortete Pyronnas. „Aber das muss bei ihm nichts heißen. Er ist oft abwesend. Er nennt seine Ausflüge ‚Forschungsreise‘.“
Manas nestelte unruhig an seinem grünen Stoffumhang.
„Na, ich hoffe, dass er seine Nase nicht schon wieder in Angelegenheiten gesteckt hat, die ihn nichts angehen“, sagte Gatton. „Ich behalte euch Schreiberlinge im Auge. Wir haben es hier mit etwas zu tun, womit nur ich und meine Stadtwachen fertig werden können. Kommt mir bloß nicht in die Quere.“
Pyronnas verzog keine Miene.
„Wir … wir werden daran denken“, antwortete Manas ängstlich.
„Jetzt muss ich weiter. Ich will aber nicht hören, dass ihr wieder Unfug treibt.“ Gatton drehte sich um und verließ den Raum. Er schloss kraftvoll die Tür hinter sich.
„Na, da haben wir einen Freund gewonnen.“ Pyronnas unterbrach die eingesetzte Stille. „Mit Gatton ist nicht zu spaßen. Wir müssen noch vorsichtiger sein.“
„Ja, du hast recht. Er sah ziemlich verärgert aus“, erwiderte Ysella. „Und lass uns diese alten Schriften finden. Ich möchte wissen, wie man in diese Höhle gelangt.“
„Gut, folgt mir, wir müssen in das Archiv“, sagte Pyronnas. Er öffnet eine Holztür, die laut quietschte.

Lyssea folgte der Kräuterkundigen, die auf ihren Pferd vorausgaloppierte. Tessia drehte sich immer wieder um und deutete Lyssea, in welche Richtung sie abbiegen müssen. Zuerst ritten sie durch eine Schlucht, entlang eines Flusses.
Als die Sonne direkt über ihnen stand, brachte Tessia ihr Pferd zum Stehen.
„Dort können wir unsere Mittagspause machen.“ Sie zeigte auf einen schattenspendenden Baum. „Ich habe Essen für uns mitgenommen.“ Sie banden ihre Pferde an den Baum.
Tessia öffnete ihre Tasche und reichte Lyssea trockenes Fleisch, gekochte Eier und Brot.
„Danke dir.“
„Gerne. Wir können das Tempo nicht den ganzen Tag halten“, sagte Tessia. „Die Pferde werden bald müde sein. Heute Abend werden wir in Dorran übernachten.“
Eine halbe Stunde später saßen sie wieder im Sattel. Der Weg führte sie durch einen Mischwald.
Plötzlich hielt Tessia an.
„Was ist los?“, fragte sie Lyssea.
„Ich weiß nicht, hier stimmt etwas nicht.“
„Warum?“
„Es ist zu still – weder Vogelgesang noch andere Tiergeräusche“, sagte Tessia. „Wir müssen uns umsehen. Das gefällt mir nicht.“
„Lass uns die Pferde führen, so können wir schwerer bemerkt werden“, schlug Lyssea vor.
„Gute Idee.“ Tessia stieg von ihrem Pferd herab.
Lyssea führte ihr Pferd von links, auf Höhe des Pferdekopfes. Sie griff mit der rechten Hand beide Zügel direkt unter dem Kinn des Tieres. Sie lief im Schritttempo neben dem Pferd.
Tessia hob ihre linke Hand in die Luft und hielt an.
Die Schreiberin ruckte an den Zügeln, um das Pferd zum Stehen zu bringen. Das Tier gehorchte.
„Ich sehe etwas“, flüsterte Tessia.
„Was ist es?“
„Noch bin ich mir nicht sicher, wer oder was es ist. Aber ich glaube, es ist eine Gruppe von Personen. Ich habe Stimmen gehört.“
„Ich werde vorangehen und nachsehen“, schlug Lyssea vor. „Könntest du bitte bei den Pferden bleiben?“
Tessia nickte und nahm die Zügel ihres Pferdes.
Die Schreiberin ging langsam in die Richtung, aus welcher die Stimmen kamen. Gleißendes Licht umhüllte sie. Sie hielt ihr rechte Hand vors Gesicht, um ihre Augen zu verdecken.
Sie sah mehrere leuchtende Umrisse. Es waren sechs menschliche Gestalten, die Helme und Rüstungen trugen. Soldaten, wie Lyssea es vermutet hatte. Einer von ihnen drehte sich um. Sie blickte in seine ausdruckslosen Augen. Sie glühten wie zwei brennende Kohlen.
Lyssea erschrak. Sie kehrte zu ihrer Begleiterin zurück.
„Was war los? Warum bist du so verängstigt?“, fragte sie die Kräuterkundige.
„Dort waren seltsame Erscheinungen. Soldaten, die wie Geister ausgesehen haben.“
„Das muss die Verlorene Legion sein. Ich habe diese Geschichte bisher mur für eine Erfindung von gelangweilten Waldbewohnern gehalten.“
„Wer ist die Verlorene Legion?“
„Das ist eine alte Legende von Kriegsgefallen, deren Seelen von einem dunklen Zauber dazu verdammt sind, bis zum Ende der Zeit in diesem Tal umherzuwandern.“
„Sind sie gefährlich?“
„Nur für jene, die ihnen direkt in die Augen sehen.“
Lyssea erbleichte.
„Du hast es doch nicht getan, oder?“
„Ich befürchte, ja.“
Lyssea hörte hinter ihnen ein leises Rumoren. Sie drehte sich um und sah die geisterhaften Erscheinungen, die in ihre Richtung marschierten.
„Wir müssen hier weg“, sagte Tessia, „Schnell!“

„Sehen wir uns doch diese Mauer genauer an“, schlug Alrond vor.
„Hoffentlich finden wir dieses Mal mehr als alte Steine vor.“
Wad trottete voraus.
„Da würde ich nicht hingehen“, warnte sie jemand hinter ihnen. Alrond drehte sich um.
Hinter ihnen stand eine große Schildkröte. Der Echsenkopf reichte Alrond bis zu den Schultern. Er erkannte die beiden Augen, die sie im Fluss beobachtet hatten. Alrond betrachtete die Schildkröte mit weit aufgerissen Mund. Der grüne Panzer des wundersamen Tieres war zwei Quadratmeter groß.
„Was ist los? Hast du noch nie eine Schildkröte gesehen?“, wollte der Wasserbewohner spöttisch wissen.
„Du … du … kannst sprechen?“, fragte Alrond verwundert.
„Offensichtlich“, erwiderte die Schildkröte gelassen.
„Jetzt habe ich wirklich alles gesehen“, sagte Sellur.
„Wie ist das möglich?“, wollte Wad wissen.
„Hier unten ist alles möglich.“ Die Schildkröte drehte ihren riesigen Kopf hin und her, als ob sie etwas erwartet hatte.
„Hier unten? Was ist daran so besonders?“, fragte Wad.
„Wir sind hier in der Ruinenstadt Nahraan. Sie wurde vor vielen Jahrhunderten von den Marâanaern hinter diesen Mauern gebaut. Die Marâanaer waren ein mächtiges Volk, für sie war fast nichts unmöglich.“
„Aber jetzt sind sie nicht mehr da“, sagte Sellur. „Wovor sollten wir dann Angst haben? Vor Ratten und Fledermäusen?“
„Ich habe vor ungefähr einer halben Erdenumdrehung fünf seltsame Personen durch das Tor der Ruinenstadt gehen sehen.“
„Das könnten die Leute sein, die wir suchen“, sagte Alrond.
„Wie sahen sie aus?“
„Ich habe sie nur aus der Ferne gesehen, aber zwei von ihnen sahen wie Kinder aus.“
„Arzatoë und Gedan“, erfuhr es Alrond.
„Kennst du diese Leute?“, fragte ihn Sellur.
„Kennen ist das falsche Wort“, erwiderte Alrond zähneknirschend. „Ich hatte eine schlimme Begegnung mit den beiden Wechselingen. Wenn der Rest der Bande nur ansatzweise so gefährlich ist, wie sie, dann müssen wir sehr aufpassen. Ich würde sogar vorschlagen, einen anderen Weg aus der Höhle zu suchen.“
„Na, na, na. Wir werden jetzt nicht aufgeben, so kurz vor dem Ziel“, tadelte ihn Sellur.
„Ja, wir werden es gemeinsam schaffen“, bekräftigte Wad.
„Gut, dann sehen wir und jetzt diese Ruinen an.“
„Ihr seid verrückt“, konstatierte die Schildkröte. „Nun ja, wie ihr wollt. Ich kann euch nicht daran hindern. Aber ich habe meine Schuldigkeit getan.“
„Es ist weniger verrückt, als mit einer Schildkröte zu sprechen, das ist schon mal klar“, erwiderte Alrond.
„In Ordnung, dann wünsche ich euch viel Erfolg!“
„Mach’s gut, …?“ Alrond sah den Unbekannten fragend an.
„Baderro, ich heiße Baderro.“
Alle stellten sich vor und verabschiedeten sich von der Schildkröte, die sich umdrehte und in den Fluss stampfte.
Alrond, Wad und Sellur näherten sich der Wehrmauer, die aus schwarzem Vulkanstein bestand. Die Mauer reflektierte das Tageslicht, das durch eine riesige Öffnung oberhalb der Ruinenstadt in die Höhle hereinfiel.
Alrond öffnete das modrige Flügeltor von Nahraan.

Ende des dritten Teils.

Die Geschichte um Alrond wird im 4. Teil Anfang 2023 fortgesetzt.

Titelbild: Die Ruinenstadt Nahraan, Fotorechte: Dario schrittWeise

Schreibe mir gerne einen Kommentar :-)

Trage deine Daten unten ein oder klicke ein Icon um dich einzuloggen:

WordPress.com-Logo

Du kommentierst mit Deinem WordPress.com-Konto. Abmelden /  Ändern )

Twitter-Bild

Du kommentierst mit Deinem Twitter-Konto. Abmelden /  Ändern )

Facebook-Foto

Du kommentierst mit Deinem Facebook-Konto. Abmelden /  Ändern )

Verbinde mit %s

Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden..

Erstelle eine Website oder ein Blog auf WordPress.com

Nach oben ↑

%d Bloggern gefällt das: