Untergegangene Welt [3.1.]

Auf der Versammlung des Kleinen Rates von Phoenixstein gab es einen Zwischenfall. Die Ratsmitglieder befinden sich seitdem in einem unerklärlichen Tiefschlaf. Alrond und Lyssea untersuchen den Vorfall.

Während Lyssea mit Tuson zur Kräuterkundigen reiten soll, um ein Heilmittel zu finden, folgt Alrond einer Spur, die ihn zum Quellenheiligtum führt. Dort begegnet ihm Wad, der trotz Alronds Warnung einen Spalt in der Quelle aufbricht und von der Unterwasserströmung mitgerissen wird. Alrond springt dem Abenteuerer hinterher, um ihm zu helfen. Lyssea geht währenddessen zum Großen Stall, wo sie Tuson mit dem ersten Hahnenschrei des Tages treffen möchte, bevor sie zur Heilerin reiten werden.

Die Erzählung „Untergegangene Welt“ ist der dritte Teil der Erzählung „Geschichten aus dem Blauen Nebelgebirge.

Was bisher geschah

Untergegangene Welt 1

Der unterirdische Fluss zog Alrond und Wad in die Tiefe. Alrond kämpfte mit der Strömung. Alrond schrammte mehrmals an den scharfkantigen Wänden der Höhle. Er versuchte, in der Mitte zu schwimmen. Er konnte nur wenig sehen, weil das Licht spärlich war.

Alrond ließ sich vom Strom treiben, der nach einem anfänglichen Schwall immer langsamer wurde. Er konnte Wad nirgends sehen. Der Schreiber tauchte unter, um nach ihm zu suchen. Das Wasser war trüb und er erkannte nur schemenhafte Umrisse. Alrond tauchte zweimal auf, um Luft zu holen, bevor er Wad sah. Er trieb bewegungslos unter Wasser. Mit mehreren Schwimmzügen holte er Wad ein. Alrond fasste ihn unter den Armen und zog ihn an die Wasseroberfläche. Lange würde er ihn nicht so halten können. Er beobachtete die Höhle nach Flächen an, an welchen sie den Fluss verlassen konnten.

Alrond hielt Wads Oberkörper über Wasser. Sie erreichten einen Bereich, in dem die Strömung langsamer und die Höhle breiter war. Vor ihnen sah Alrond den Schatten eines Küstenstreifens.
„Komm Wad, da schwimmen wir jetzt hin“, sagte er zu seinem ohnmächtigen Begleiter. Mit der linken Hand drückte er Wad an sich und mit der rechten holte er mehrmals aus. Seine Beine taten das Übrige. Mit Mühe zog er den Bewusstlosen auf den schmalen Höhlenstrand. Wad hustete kräftig.

„Du bist wieder wach“, stellte Alrond beruhigt fest.
„Wach? Was ist passiert?
„Du hast einen Durchgang im Quellentempel geöffnet. Der unterirdische Fluss hat dich mit sich gezogen. Ich bin dir gefolgt, um dich zu retten.“
„Was ist danach passiert? Ich kann mich nur daran erinnern, dass ich das Gleichgewicht verloren und nach unten gefallen bin.“
„Du bist voraussichtlich mit dem Kopf gegen etwas gestoßen. Jedenfalls warst du bewusstlos, als ich dich gefunden habe.“
„Daran kann ich mich nicht erinnern“, erwiderte Wad.
„Das glaube ich. Wie fühlst du dich?
„Es geht mir gut. Ich spüre nur leichten Schmerz am Hinterkopf. Ich glaube, ich werde eine Beule bekommen“.
„Ansonsten scheint es dir gut zu gehen. Du hast mir einen Schrecken eingejagt. Warum musstest du überhaupt in der Quelle nach einer Öffnung suchen?“, fragte ihn Alrond mit einem leicht vorwurfsvollen Unterton.
„Zu dem Zeitpunkt dachte ich, es wäre eine gute Idee.“
„Wir müssen einen Ausgang finden. Hier ist es stockdunkel. Und außerdem ist es kalt. Zurück können wir nicht, es ist zu steil und die Strömung zu kräftig.“
„Kannst du wieder aufstehen?“
„Ja, denke ich schon.“
Langsam tasteten sie sich voran. Alrond stieß mit dem Fuß gegen einen harten Gegenstand.
„Was war das?“, fragte ihn Wad.
„Ich bin gegen einen Tropfstein gelaufen.“
„Wir brauchen Licht, sonst werden wir nicht weit kommen“, stellte Wad fest.
„Da, ich sehe ein schwaches Licht, da sollten wir nachsehen.“
„Ja, ich sehe es schimmern“, pflichtete Wad ihm bei.

Sie folgen dem Lichtschein. Die Höhlenränder zeichneten sich immer klarer ab. Von der Decke hingen Stalaktiten. Die Wände waren mit Wassertropfen bedeckt. Das Licht in der Höhle ist immer heller geworden. Das Leuchten schien von überall her zu kommen. Alrond untersuchte die Höhlenwände genauer.
„Was hast du da gefunden?“, fragte ihn Wad.
„Die Höhlenwände sind über und über mit winzigen Partikeln übersäht. Sie sind der Ursprung dieses Lichts.“
„Bist du dir sicher?“
„Ja, das muss es sein“, erwiderte Alrond.
„Sind das Kristalle?“
„Hmm, schwer zu sagen.“ Alrond berührte die leuchtende Oberfläche. „Sie fühlen sich auf jeden Fall weich an.“ Die leuchtenden Partikel schlossen sofort seine Hand ein.
„Oh!“, rief Alrond verwundert aus, „Sie bewegen sich!“
„Ist das … ist das Magie?“, wunderte sich Wad.
„Das könnte man meinen, aber ich habe fast das Gefühl, es ist etwas anderes.“ Der Schreiber betrachtete fasziniert seine Hand, die in pulsierendes Licht eingehüllt war.
„Es fühlt sich wie ein warmer Ameisenhaufen, der über meine Haut krabbelt“. Er streifte vorsichtig die strahlende Schicht von seiner Hand.

Lyssea ging zum Markt von Phoenixstein. Sie kam pünktlich zum großen Stall, wo sie mit Tuson verabredet war. Im Stall kümmerten sich die Hüter um die Pferde der Stadtbesucher. Die Besitzer ließen hier ihre Reittiere zurück, während sie in Phoenixstein ihren Pflichten nachgingen. Die Meisten waren reiche Geschäftsleute oder Kaufleute.

Der Marktplatz war ruhig, nur vereinzelte Händler bereiteten sich für den Markttag vor. An einem der Stände unterhielt sich Manas mit einer Verkäuferin. Beide schienen sich gut zu amüsieren. Er bemerkte Lyssea und verabschiedete sich von seiner Gesprächspartnerin. Schnellen Schrittes holte er sie ein.
„Guten Morgen Lyssea, so früh schon unterwegs? Solltest du nicht bald in der Schreibstube sein?“
„Guten Morgen Manas. Heute nicht, wir haben Wichtigeres zu tun.“
Lyssea erzählte Manas von dem Zwischenfall und ihrer Reise zur Kräuterkundigen.
„Dann werde ich versuchen, Aaron zu treffen, sobald er zurückkommt. Ich habe den unbekannten Besucher gefunden. Ich habe erfahren, dass er gestern nicht in seinem Zimmer im Gasthof gewesen ist.“
„Das wird Alrond interessieren“, mutmaßte Lyssea.

Der Hahn des nahegelegenen Tempels verrichtete seinen täglichen Dienst. Weniger Augenblicke später bog Tuson um die Ecke. Manas verabschiedete sich von ihnen.
„Er scheint ein reizender Bursche zu sein“, stellte Tuson fest.
„Alrond hält einiges von ihm. Er hofft, dass er Manas eines Tages Schreiben und Lesen beibringen kann.“
„Ich habe nie verstanden, wozu man dieses neumodische Zeug braucht. Ich bin schon 53 und bin ohne diese kleine Zeichen durchs Leben gekommen.“
„Du würdest dich wundern, welche Möglichkeiten sich dir dadurch eröffnen würden“
Lyssea und Tuson betraten den großen Stall. Tuson sprach einen kleinen, rundlichen Mann an, der für die Pflege der Pferde zuständig war.
„Ich habe die versprochenen Pferde für euch, Tuson“, sagte der Mann.
„Danke dir Dorun, dass du sie so kurzfristig gesattelt hast.“
„Für dich mache ich es gerne. Aber ich muss sagen, es war ganz schön kurzfristig.“
„Ich habe es selbst erst gestern Abend erfahren, nicht wahr, Lyssea“, entgegnete Tuson und blickte die Schreiberin lächelnd an.
„Leider ging es nicht eher“, erwiderte sie verlegen.
„Macht nichts, wir sollten gehen“, erinnerte sie Tuson.

Der Pferdepfleger brachte die beiden Reittiere. Er führte sie am Zaumzeug. Den braunen Hengst mit einem weißen Fleck um das rechte Auge reichte er Lyssea und die schwarze Stute bekam Tuson.
„Hier sind die beiden Hübschen. Ich hoffe, ihr werdet zufrieden sein.“
„Das werden wir“, mutmaßte Lyssea und bestieg den Hengst. „Und jetzt sollten wir losreiten“.
Lyssea und Tuson trieben ihre Pferde an. Sie ritten über den Marktplatz und an der Statue des Phoenix vorbei. Der Markt füllte sich mehr und mehr, die Stadt wachte langsam auf.
„In welche Richtung müssen wir reiten?“, fragte Lyssea.
„Durch das nördliche Königstor und auf der Straße der Könige in das Nebelgebirge.“
„Dann los!“, sagte die Schreiberin und spornte ihr Pferd an.

Lyssea und Tuson ritten über die Straße der Könige gen Nordwesten. Nach einigen Stunden verließen sie den befestigten Weg und folgten einem Pfad durch den Wald. Als die Sonne fast den Horizont erreichte, zog Tuson die Zügel seiner Stute an und hielt an.
„An der Steinernen Nase müssen wir rechts abbiegen“, erklärte er und deutete auf einen Felsvorsprung vor ihnen.
„Ein bildhafter Name“, erwiderte Lyssea amüsiert.
„Ja, und treffend, wie ich finde.“
„Langsam wird es dunkel. Sollten wir nicht bald ein Nachtlager aufschlagen?“
„Du hast recht. Wir könnten bei den Gerbern Liceille und Faennas übernachten“, schlug der Wagenfahrer vor, „sie wohnen hier in der Nähe. Wir kennen uns gut und sie werden nichts dagegen haben“.
„In Ordnung. Wir sind schon den ganzen Tag unterwegs, ich freue mich auf ein richtiges Bett.“
„Vielleicht gibt es eine Kleinigkeit zu essen für uns.“
„Etwas Warmes würde mir jetzt guttun.“
„Da vorne ist jemand“, Tuson deutete auf ein Waldstück vor ihnen.

Vor ihnen arbeitete eine Frau an einem Holztisch. Darauf lagen mehrere Felle. Die Frau trug eine schwarze Mütze und ein braunes Lederkleid. Sie blickte von ihrer Arbeit auf.
„Hallo Tuson, gut dich wieder zu sehen.“

Hier geht es zur 2. Fortsetzung

Titelbild: "In der Höhle", Fotorechte: Dario schrittWeise

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