Die Geschichte um Alrond, Lyssea und die unerklärlichen Ereignisse im Nebelgebirge geht weiter.
In der ersten Fortsetzung der Erzählung „Untergegangene Welt“ reitet Lyssea mit dem Wagenfahrer Tuson zur Kräuterkundigen, um ein Heilmittel für die schlafenden Mitglieder des Kleinen Rates zu finden. Sie machen Pause bei einem Gerberehepaar.
Währenddessen folgen Alrond und der Rumtreiber Wad einer Spur, die sie in eine Höhle unter dem Quellenheiligtum von Phoenixstein führt.
Die Erzählung „Untergegangene Welt“ ist der dritte Teil der Erzählung „Geschichten aus dem Blauen Nebelgebirge“.
Was bisher geschah
- Geschichten aus dem Blauen Nebelgebirge: Übersichtsbeitrag
- Die Stadt des Lichtbringers – Teil 2: 5. Fortsetzung
- Untergegangene Welt – Teil 3: 1. Fortsetzung
Untergegangene Welt 2
„Gehen wir weiter, wir sollten einen Ausgang finden“, forderte Alrond Wad auf.
Sie konnten sich in weiteren Abschnitt der Höhle problemlos zurechtfinden. Die meisten Wände waren mit der unbekannten Materie bedeckt, die genug Licht erzeugt hatte.
„Dieses Schimmern finde ich unheimlich“, stellte Wad fröstelnd fest.
„Davon scheint aber keine Gefahr auszugehen.“
„Das erinnert mich an deine Geschichte, die du vor zwei Tagen in der Taverne erzählt hast.“
„Kann sein, nur denken die Anderen über meine Erlebnisse, dass ich sie erfunden habe. So werden sie uns auch dieses Mal nicht glauben.“
Alrond und Wad gelangten in ein großes Gewölbe. Es war vollständig beleuchtet. Eine Wand war bedeckt mit Kristallen und in einer Felsspalte wuchsen gelbliche Pilze mit einem kugelförmigen Hut.
„Sieh mal, in der Pfütze schwimmen kleine Eidechsen.“ Wad zeigte auf eine Kuhle, wo sich das von der Decke tröpfelnde Wasser sammelte.
Die Amphibientiere hatten eine durchsichtige Haut, durch die alle ihre inneren Organe sichtbar waren. Das Herz pochte zwischen den Rippen rhythmisch. Ihre hellgelben Augen leuchteten im Dunklen.
„Fassen wir sie lieber nicht an, Wad. Solche Eidechsen habe ich noch nie gesehen. Wer weiß, was uns in dieser Höhle erwartet. Mich wundert es, dass sich unter Phoenixstein ein so weitverzweigtes Gangsystem erstreckt.“
Sie liefen weiter. Die Höhle wurde schmaler. Sie erreichten die erste Kreuzung.
„Wie kommen wir hier weiter?“ Wad blickte sich unruhig um.
„Ich sehe mir das mal an.“ Alrond lief zuerst in einen und dann in den anderen Höhlengang. Wad bückte sich, um etwas aufzuheben.
„Ein Steinlöffel. Er liegt im rechten Gang“, stellte Wad fest.
„Das ist mit zu einfach gewesen“, erkannte Alrond, „die hat jemand vermutlich absichtlich dort liegen lassen. Langsam glaube ich, dass wir hier in eine Falle tappen“.
„Was sollen wir tun? Zurück können wir nicht“, sagte Wad.
„Ich denke, wir haben keine andere Wahl. Folgen wir der neuen Spur.“
Sie gingen weiter. Die Wände waren abwechselnd mit den leuchtenden Objekten und mit durchsichtigen Kristallen bedeckt. Nach mehreren Kurven endete der Gang in einem großen Raum, der mit Schlingpflanzen überwuchert war. Der markante Duft war penetrant.
„Dieser Duft“, sagte Wad, „ich glaube, das sind Meeresalgen“.
„Meeresalgen, das kann nicht sein. Sie können in der Form doch gar nicht ohne Wasser überleben.“
„Sie scheinen einen anderen Weg gefunden zu haben. Glaube mir, Alrond, ich bin am Meer aufgewachsen, ich erkenne sofort Algengeruch, wenn ich ihn rieche“.
„Mir ist schwindelig“. Wad fasste sich am Kopf. Er schloss seine Augen.
„Sind es Folgen des Stoßes gegen deinen Kopf? Möchtest du dich kurz hinsetzen?“
„Nein, nein, ich fühle mich schon besser. Gehen wir weiter.“
Vor ihnen erblickten sie einen steinernen, halbverfallenen Torbogen. Der obere und untere Rand des Bogens waren mit Pflanzenmustern verziert. Alrond sah sich den Steinbogen genau an.
„Da verläuft eine Inschrift quer über das Steintor“, stellte er fest.
„Inschrift?“
„Da sind Zeichen eingraviert.“
„Sind das Kenarische Zeichen?“
„Nein, die Schrift ist viel älter als unser Königreich“, erwiderte Alrond.
„Guten Abend, Liceille. Das ist Lyssea, eine Schreiberin aus Phoenixstein“, Tuson deutete mit der offenen rechten Handfläche auf seine Begleiterin, „wir reiten nach Dorran.“
„Da seid ihr aber noch länger unterwegs. Kommt zu uns. Faennas bereitet gerade einen Rehbraten zum Abendessen vor. Ihr könnt gerne auf dem Dachboden schlafen.“
„Danke, das ist freundlich von euch“, sagte Lyssea.
Tuson und Lyssea betrachteten das Wohnzimmer der Gerber. An den Wänden hängten ausgestopfte Köpfe von einem Reh, einem Wildschwein und einem Fasan. Ein Mann saß am Kochtopf und rührte darin. Er trug ein grünes Hemd aus grobem Stoff und einer anthrazitfarbenen Hose.
„Faennas, sieh wer uns mit einem Besuch beehrt.“
„Ach, Tuson. Schön, dich wiederzusehen“. Faennas hörte mit dem Rühren auf, „und, mit wem haben wir noch die Ehre?“
„Ich heiße Lyssea. Wir reisen zur Kräuterkundigen Tessia, weil wir ihre Hilfe brauchen“.
„Erzählt uns alles beim Abendessen“, sagte Faennas, „der Braten ist fast fertig“.
„Bitte setzt euch an den Tisch, das Essen ist gleich fertig“, fügte Liceille hinzu.
Faennas brachte den Rehbraten auf den Tisch. Die Gerber zeigten sich als gute Gastgeber.
Lyssea erzählte ihnen während des Abendessens von Vorkommnissen im Königreich Kenaris und von den Ratsmitgliedern, die in einem schlafähnlichen Zustand lagen.
„Eine seltsame Situation ist das“, sagt Faennas nachdenklich, „für uns aber nichts Neues. Geschehen doch ungewöhnliche Sachen in der Gegend“.
„Was zum Beispiel?“, wollte Lyssea wissen.
„Manchmal denke ich, hier geht es nicht mit rechten Dingen zu. Vor zwei Wochen haben wir ein Wesen im Wald gesehen, es hatte einen riesigen Kopf und sechs Beine. Richtig lange, dünne Beine, mit drei Kniegelenken“.
„Ja und es hat im Dunklen geleuchtet“, ergänzte Liceille.
„Die Geschichte ist fast so verrückt, wie die, die Alrond uns immer erzählt!“ Lyssea lachte,
„Verrückt?“, erwiderte Faennas irritiert, „Wir haben zwar auch nicht unseren Augen glauben können, aber genauso hat sich alles zugetragen.“
„Nichts für ungut, aber jetzt weiß ich, woher unser Freund seine Geschichten mitbringt“, fügte Lyssea hinzu, „die Bewohner des Nebelgebirges erzählten sich solche Sachen am Lagerfeuer und naive Reisende wie unser Alrond schnappen die Märchen auf.“
„Denkt, was ihr wollt. Wir werden es euch nicht übel nehmen, wahrscheinlich würden wir an eurer Stelle genauso denken“, sagte Liceille.
„Ja, aber bleiben Sie bitte aufmerksam. Gut, dass ihr heute Nacht bei uns übernachtet“. Faennas legte seinen Arm auf Tusons Schulter.
„Eine Sache ist uns noch aufgefallen“, fügte Faennas hinzu, „immer wieder hören wir von Söldnern, die in der Gegend gesichtet worden sind. Sie werden von jemanden angeheuert. Wir denken, dass es Menschen gibt, die gegen König Cederick intrigieren.“
„Ist das nicht normal, wenn man als König regiert?“, fragte Lyssea.
„Meistens schon, aber in den letzten Monaten sind die Gerüchte immer stärker geworden“, Liceille erwiderte, „über die gewöhnliche Gerüchteküche hinweg. Wir gewinnen den Eindruck, als ob sich hier etwas zusammenbraut.“
„Ein Aufstand?“, mutmaßte Lyssea.
„Möglich. Vielleicht hat es sogar eine Verbindung zu allen Vorkommnissen.“
„Dann sollten wir den König warnen, wenn wir zurückkommen.“ Lyssea blickte nachdenklich.
„Politik, ich halte mich da lieber raus“, sagte Tuson, „meistens bedeutet sie nur Ärger. Und ein ruhiger Schlaf ist mir wichtig. Ich habe gedient und das reicht mir.“
„Das ist wahr, mein lieber Tuson. Und für einen guten Schlaf habe ich hier das richtige Mittelchen. Ein wenig Bärentrunk?“
„Da sage ich nicht nein.“
„Und du, Lyssea?“
„In Ordnung, aber nur einen Becher.“
Sie stießen an und tranken das Getränk in einem Zug aus.
„Zeit für die Traumwelt“, sagte Tuson.
„Ja, morgen müssen wir früh weiterreiten.“
„Wir zeigen euch euren Schlafplatz“, sagte Liceille.
Am nächsten Morgen verabschiedeten sich Tuson und Lyssea von ihren Gastgebern, die sie erneut an die Gefahren im Wald erinnert hatten.
Lyssea und Tuson stiegen auf ihre Pferde auf und verließen den Gerberhof. Nachdem sie mehrere Stunden unterwegs waren, bildete sich um sie dichter Nebel im Wald.
„Hier kommen wir nicht weiter, es ist zu neblig“, stellte Tuson fest.
„Da – ein einzelnes Licht in der Ferne“, Lyssea deutete auf ein Flackern vor ihnen.
Sie näherten sich dem Leuchten. Es stellte sich als ein tentakelartiger Fortsatz heraus, der aus der Erde ragte. Dessen leuchtende, kugelförmige Spitze vibrierte.
„Was ist das?“, fragte Tuson entsetzt.
„Ich weiß es nicht. Ein Tier?“
Der Boden unter ihnen erzitterte. Direkt vor ihnen erhob sich eine Kreatur ohne Augen, die wie ein gepanzerter Fisch aussah. Es lief auf vier Beinen, die Froschbeinen ähnelten. Das Geschöpf öffnete sein riesiges Maul mit faustdicken Zähnen. Mit dem Lichtorgan auf den Kopf lockte es seine Opfer an. Aus zwei seitlichen Öffnungen entwich Wasserdampf, mit dem es die Umgebung in einen Nebel tauchte.
Hier geht es zu 3. Fortsetzung
Titelfoto: Höhlenlabyrinth, Dario schrittWeise
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