Alrond und Lyssea untersuchen die rätselhaften Ereignisse im Königreich Kenaris. Dafür gehen sie vorerst getrennte Wege, Lyssea reist durch das Nebelgebirge und Alrond untersucht eine Höhle unterhalb von Phoenixstein.
Zeitgleich versucht Manas herauszufinden, was mit Alrond passiert ist. Er bittet den Schreiber Pyronnas um Hilfe.
Die Erzählung „Untergegangene Welt“ ist der dritte Teil der Reihe „Geschichten aus dem Blauen Nebelgebirge“.
Was bisher geschah
- Geschichten aus dem Blauen Nebelgebirge: Übersichtsbeitrag
- Teil 2 – Die Stadt des Lichtbringers: 5. Fortsetzung
- Teil 3 – Untergegangene Welt: 1. Fortsetzung
- Teil 3 – Untergegangene Welt: 2 Fortsetzung
- Teil 3 – Untergegangene Welt: 3. Fortsetzung
- Teil 3 – Untergegangene Welt: 4. Fortsetzung
Untergegangene Welt 3.5
„Du kannst Spuren lesen? Ich dachte, du bist ein Händler?“, fragte Alrond Sellur verwundert.
„Das bin ich auch. Darf ein Mann nicht vielfältige Interessen haben? Ich war häufig mit meinem Vater auf der Jagd.“
„So so, mit dem Vater. Er war wohl ein großer Jäger, wie?“
„Das auf jeden Fall“, erwiderte Sellur selbstbewusst, „er ist es immer noch.“
„Wer sagt uns, dass du nicht für dieses Schlamassel verantwortlich bist?“, bohrte Alrond weiter.
„Warum sollte ich so etwas tun?“
„Das frage ich mich auch.“ Alrond sah ihn prüfend an.
„Glaubt ihr nicht, dass ich euch schon längst etwas angetan hätte, wenn ich es gewollt hätte?“
„Da hat er Recht, Alrond. Lass ihn in Ruhe“, Wad versuchte, seinen unfreiwilligen Begleiter zu beschwichtigen. „Und schau, ich habe meine Wurzeln und Blätter schon aufgegessen. Noch geht es mir prächtig.“
„Vermutlich habt ihr Recht.“ Alrond lenkte ein.
„Außerdem kenne ich Sellur von unserer Schifffahrt von Phoenixhafen in die Hauptstadt.“
„In Ordnung, ich gebe mich geschlagen. Eure Argumente finde ich zwar nur mäßig überzeugend, aber ich denke, dass wir vorerst an einem Strang ziehen sollten. Eine andere Möglichkeit sehe ich derzeit nicht.“ Alrond aß seine Blätter und Wurzeln auf, die Sellur ihm gegeben hatte.
„Gut, ich denke, jetzt können wir weiterlaufen“, stellte Sellur fest.
„Nun, Herr Spurenleser, welchen Weg sollten wir wählen?“ Alrond deutete auf drei Durchgänge, die sich vor ihnen befanden.
„Den linken“, sagte Sellur entschlossen.
„Warum ausgerechnet diesen?“, fragte ihn Alrond.
„Ich werde es euch zeigen. Kommt näher. Hier …“ Sellur zeigte auf eine bemooste Stelle in der linken Öffnung.
„Ein Fußabdruck!“, stellte Wad anerkennend fest.
„Du hast sehr gute Augen“, pflichtete Alrond bei, „ich wäre einfach daran vorbeigelaufen.“
„Es gibt weitere Spuren. Ich gehe davon aus, dass es mehrere Personen sind.“
„Dann sollten wir lieber vorsichtig sein“, sagte Alrond.
„Ja, aber jetzt will ich erstmal sehen, wer das ist!“ Wad ging entschlossen voran, ohne auf seine Begleiter zu warten.
Alrond und Sellur folgten ihm in den Durchgang. Am Ende des Höhlengangs sahen sie wieder einen verzierten Torbogen. Sie kamen in einen größeren Raum. Die Decke über ihnen war mehrere Meter hoch. Riesige Stalaktiten hingen herab.
„Wir sind hier in der Welt der Marâanaer geraten“, stellte Alrond fest, als er das Steintor betrachtete. „Vielleicht befand sich vor vielen Jahrhunderten hier eine Stadt oder eine Siedlung“.
„Das kann sein, wir werden es sehen“, erwiderte Sellur kurz, „Kommt jetzt, ich sehe vorne eine Brücke“.
Sie kamen zu einer Steinbrücke, die einen breiten Fluss überquerte. Die Brücke war übersät mit einer grünbläulichen Schicht.
„Ist das Moos?“ Wad berührte den ungewohnten Belag. „Es fühlt sich sehr weich an.“
„Ich glaube nicht, dass es Moos ist“, erwiderte Sellur skeptisch.
Sie überquerten die Brücke. Darunter rauschte der unterirdische Fluss. Auf der anderen Seite breitete sich der moosartige Belag über die komplette Wiese aus.
„Kommt, weiter geht es. Wir sind ganz nah.“
Sie kamen an einem alten, halbverfallenen Turm vorbei. Das Dach des Turmes bildete eine große, runde Muschel aus weißen Kalk. Der Turm war bedeckt mit der moosartigen Schicht, die sie auf der Brücke gesehen hatten.
„Seht euch diese Riesenmuschel an. Wer weiß, welches Tier vorher darin gewohnt haben mag“, wunderte sich Alrond.
„Und was ist das?“ Wad zeigte auf den Fluss.
Ein großer Schatten bewegte sich unter der Wasseroberfläche. Unvermittelt tauchten zwei faustgroße Augen auf, die parallel nebeneinander angeordnet waren. Die Augen musterten sie und verschwanden gleich wieder im Fluss. Den Rest des Tieres konnten sie nicht sehen.
„Habt ihr diese Augen gesehen?“, wollte Wad wissen.
„Ja, das muss ein großer Meeresbewohner sein“, erwiderte Alrond. Er betrachtete den Fluss.
Sellur schwieg. Er schien nachzudenken.
„Kommt. Gehen wir weiter. Ich glaube, da vorne ist eine Mauer.“ Sellur zeigte auf einen Hügel vor ihnen.
Lyssea kümmerte sich um Tusons Wunde, während sie auf die Heilerin warteten. Sie drückte den Verband mit beiden Händen, um die Blutung zu stillen.
„Lyssea?“, Tuson rief nach ihr.
„Hier bin ich.“
„Ähm“, Tuson räusperte sich, „Ihr solltet … ihr solltet ohne mich nach Phoenixstein reiten.“
„Ja, das werden wir wohl müssen. Tessias Nachbarin wird deine Verletzungen versorgen.“
„Um mich braucht ihr euch keine Sorgen zu machen. Ich werde schnell wieder auf den Beinen sein. Dann werde ich nach Phoenixstein zurückkehren.“
„Da bin ich sicher.“
„Hallo, ich bin wieder da“, sagte Tessia und trat ein. „Das ist meine Nachbarin, Soass.“
Eine Frau um die Fünfzig trat vor. Sie hatte hellbraune Haare und eine spitze Nase. Auf der linken Wange zeichnete sich eine kleine Narbe ab. Soass trug eine rote Strickjacke aus grober Wolle.
„Sehen wir uns unseren Verletzten mal an“, sagte sie. „Die Wunden sehen ja schlimm aus!“
„Na ja, viel hässlicher kann ich nicht mehr werden“, erwiderte Tuson.
„Ach, du übertreibst“, sagte Tessia.
„Tessia, erklär mir, was ich zu tun habe“, fragte Soass ihre Nachbarin.
„Ich habe einen Sud vorbereitet, den er zwei Mal pro Tag trinken sollte. Du findest ihn im Kochbereich auf dem Tisch.“
„Wie häufig soll ich die Verbände wechseln?“
„Am besten alle drei – vier Stunden. Und auf die neuen Verbände solltest du diese Paste auftragen.“ Sie deutete auf einen Topf auf dem kleinen Nachttisch.
Die Kräuterkundige erklärte Inna weiter, was sie zu tun hatte. Sie zeigte ihr, wo sie die notwendigen Heil- und Nahrungsmittel finden könnte.
„Denkst du, du kommst damit klar?“, fragte Tessia.
„Ja, danke dir, ich glaube, ich weiß, was zu tun ist“, antwortete die Gefragte.
„Wir danken dir, dass du dich um Tuson kümmerst“, sagte Lyssea.
„Nun geht schon, ich bin zwar verletzt, aber noch lange nicht tot. Wir kommen schon zurecht“, fügte Tuson ungehalten hinzu.
„Ich nehme noch das Wichtigste mit und dann können wir losreiten. Funke wartet schon ungeduldig im Stall.“
„Funke? Wer ist das?“
„Mein Wallach. Er ist ein verspieltes Pferd und ein treuer Begleiter. Funke wird sich über den Ausflug freuen.“
„Macht es gut, Tuson und Soass“, sagte Tessia.
„Und gute Besserung, Tuson.“ Lyssea ging aus der Hütte.
Wenig später saßen beide auf ihren Pferden. Sie ritten los.
„Ich möchte helfen“, sagte Ysella und setzte sich auf den freien Stuhl.
„Gerne, komm mit“, erwiderte Manas.
„Was habt ihr vor?“
„Alrond wurde zuletzt im Quellenheiligtum gesehen. Wir möchten mehr über die Quelle und das Gebiet darunter herausfinden.“
„Und wie wirst du das machen?“, fragte Ysella.
„Hier komme ich ins Spiel“, mischte sich Pyronnas ein. Er zupfte nervös an seinem Schnauzer. „In der Hütte der Schreiber bewahren wir alte Schriften auf. Ich erinnere mich an eine Schreibtafel über Phoenixsteiner, die sich in das Höhlensystem unterhalb der Quelle gewagt haben.“
„Wie kann uns das helfen?“
„Darin können wir erfahren, wie das Höhlensystem aufgebaut ist. So können wir auch einen der Eingänge finden.“
„Ideal wäre zwar das königliche Archiv, dieses befindet sich aber in der Burg, die wir derzeit nicht betreten dürfen“, sagte Pyronnas. „Deswegen werden wir uns mit dem Archiv der Schreiber begnügen müssen.“
„Gut, dann nichts wie hin.“ Ysella stand voller Tatendrang daneben.
Die Drei verließen die Taverne. Die Hütte der Schreiber war nicht weit davon entfernt. Pyronnas öffnete die Tür.
„Wie müssen in den Keller. Geht schon mal runter, ich muss vom Archivar Quaeron den Schlüssel holen.“ Pyronnas wies ihnen den Weg zur Treppe, die in den Keller führte.
„Gut, wir warten unten auf dich“, sagte Manas.
In dem Moment klopfte jemand an. Sie drehten sich um. Die Tür ging auf. Gatton, Hauptmann der Stadtwache von Phoenixstein trat ein. Zwei Wachen folgten ihm.
„Guten Tag! Ich habe euch schon überall gesucht.“ Gatton blickte grimmig drein.
Fortsetzung folgt
Titelfoto: "Bei der Kräuterkundigen", Fotorechte: Dario schrittWeise
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